REPUBLIK ÖSTERREICH
LANDESGERICHT WIENER NEUSTADT

Im Namen der Republik!

Das Landesgericht Wiener Neustadt hat durch den Einzelrichter HR Dr. Wolfgang Jedlicka über den von der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt gegen Helmut PILHAR und Erika PILHAR wegen §§195 Abs 1 u. 2 StGB u.a. Del. gestellten Strafantrag, nach der am 11.11.1996 in Anwesenheit des Staatsanwaltes HR Dr. Erich Reisner, der Beschuldigten

Ing. Helmut PILHAR, geb. 25.02.1965 in Grünbach, Österreicher, o.B.
Hohe Wand, Maiersdorf 221

Erika PILHAR, geborene Schilcher, geb. 18.04.1963 in Wr. Neustadt, Öst.,o.B., wh. 2724 Hohe Wand, Maiersdorf 221

deren Verteidiger Mag. Rebasso und Dr. Heike Schefer und der Schriftführerin VB Alexandra Hammer-Koretz durchgeführten Hauptverhandlung am 11.11.1996 zu Recht erkannt:

Ing. Helmut PILHAR und Erika PILHAR sind schuldig, sie haben in Maiersdorf und anderen Orten Österreichs, Deutschlands, der Schweiz und Spaniens

I.)

in der Zeit vom 23.6. bis 29.7.1995 eine unmündige Person, nämlich die am 31.12.1988 geborene Olivia Pilhar der Macht des Erziehungsberechtigten, nämlich der mit Beschluß des Bezirksgerichtes Wiener Neustadt vom 23.6.1995, AZ P 218/95 mit der Obsorge über das Kind betraute Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt Jugendabteilung dadurch entzogen, daß sie den Aufenthalt des Kindes verheimlichten und mit ihm über Deutschland und die Schweiz bis nach Spanien (Malaga) fuhren;

II.)

in der Zeit von Mitte Juni 1995 bis 29.7.1995 fahrlässig ihre Tochter Olivia Pilhar, die an einem operablen

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Wilmstumor erkrankt war, an der Gesundheit schwer geschädigt und dadurch eine schwere Körperverletzung, nämlich eine massive Verschlechterung des Tumorleidens, verbunden mit Schmerzen und einem letztendlich moribunden Zustand des Kindes zugefügt, daß sie die chemotherapeutische Behandlung und damit die Operation des Tumors ablehnten und verhinderten.

Sie haben hiedurch

zu I.) das Vergehen der Entziehung eines Minderjährigen aus der Macht des Erziehungsberechtigten nach den §§195 Abs. 1 und 2 StGB und

zu II.) das Vergehen der fahrlässigen Körperverletzung nach dem _88 Abs. 1 und 4, 1. Fall StGB begangen und werden sie hiefür unter Anwendung des § 28 Abs. 1 StGB nach dem § 195 Abs. 2 StGB je zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von

8 (acht) Monaten

und gemäß § 389 StPO zum Ersatz der Kosten des Strafverfahrens verurteilt.

Gemäß dem _43 Abs. 1 StGB wird der Vollzug der verhängten Freiheitsstrafe unter Bestimmung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen.

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

Der 31-jährige Erstbeschuldigte Ing. Helmut Pilhar ist gelernter Elektrotechniker, derzeit arbeitslos und ohne geregeltes Einkommen. Er lebt von Ersparnissen und Geldzuwendungen von Medien, die nicht näher konkretisiert

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werden konnten. Er wird nicht nachteilig beleumundet und ist gerichtlich unbescholten.

Die 33-jährige Zweitbeschuldigte Erika Pilhar, seine Ehefrau ist Lehrerin, derzeit im Karenzurlaub, das Karenzgeld beträgt rund S 5.000.– monatlich. Auch sie wird nicht nachteilig beleumundet und ist gerichtlich unbescholten.

Die Eltern Pilhar suchten erstmals am 17.5.1995 mit ihrem Kind Olivia das Krankenhaus Wiener Neustadt auf, nachdem es über vehemente Bauchschmerzen geklagt hatte. Nach ersten Untersuchungen wurde der Zweitbeschuldigten am darauffolgenden Tag vom Vorstand der Kinderklinik des Allgemeinen Öffentlichen Krankenhauses Wiener Neustadt, Prim. Jürgenssen eröffnet, daß das Kind an einer bösartigen Nierenzyste, einem sogenannten Wilmstumor erkrankt sei. Der Mutter wurde nahegelegt, mit dem Kind sofort das St. Anna-Kinderspital in Wien aufzusuchen, wo in dem österreichweit anerkannten und dafür auch eingerichteten Kinderkrebszentrum eine entsprechende Behandlung sofort aufzunehmen wäre. Die Eltern haben diese Ratschläge zunächst auch sofort befolgt und das Kind noch am gleichen Tag gegen Abend dort vorgestellt.

Nach ersten Zugangsuntersuchungen am folgenden Tag wurde den Eltern von Ärzten dieses Krankenhauses die Diagnose bestätigt und wegen des bevorstehenden Wochenendes die ärztliche Entscheidung durch die kompetenten Entscheidungsträger für den kommenden Wochenbeginn in Aussicht gestellt.

Das Kind hat das Wochenende mit seinen Eltern im St. Anna – Kinderspital verbracht. Dabei hatten diese Gelegenheit, den bedauernswerten Zustand an Krebs erkrankter Kinder zu studieren, worauf sich bei ihnen eine Abneigung gegen (die dortigen) Behandlungsmethoden entwickelte. In

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einem privaten Gespräch mit bekannten, jedoch medizinisch nicht ausgebildeten Personen wurde ihnen überdies eine chemotherapeutische Behandlung des Kindes als besonders nachteilig und lebensbedrohend geschildert und sie darauf aufmerksam gemacht, daß auch andere, alternative Behandlungsmethoden, wie etwa jene nach Dr. Hamer, möglich wären. Darauf festigte sich bei den Eltern der Entschluß, das Kind nicht in der begonnenen Spitalsbehandlung zu belassen, sondern nach Alternativen zu suchen.

Am darauffolgenden Montag, dem 22.5.1995 fand im St. Anna – Kinderspital dann mit dem Stationsverantwortlichen und Oberarzt Dr. Mann das sogenannte Erstgespräch – das ist ein Diagnoseaufklärungs- und Therapiegespräche – statt. Dabei wurden die Eltern vom Zeugen darüber aufgeklärt, daß sich der Verdacht auf Wilmstumor bestätigt habe. Da ein mittlerweile zusätzliche eingeholter Laborbefund des Diagnosezentrums Urania, eine Computertomographie ergeben hatte, daß lediglich eine Nierenzyste und kein originärer Lebertumor vorliege, beurteilte Dr. Mann die Heilungschancen mit sehr gut, wenn mit einer relativ milden Form der Behandlung, also Chemotherapie heute noch begonnen werden könne. Der Zeuge erklärte den Eltern das Wirkungsprinzip der Chemotherapie und, daß die Wahrscheinlichkeit von Nebenwirkungen gering bis ganz unwahrscheinlich sei. Auf die Einwände der Eltern, daß sie den bedenklichen Gesundheitszustand anderer Kinder in der Klinik mittlerweile beobachten konnten, daß ihr Kind daher eine solche Behandlung nicht „aushalten“ könnte, warnte der Zeuge davor, die anders gelagerten Erkrankungen der Kinder mit den ihres Kindes zu vergleichen und stellte schließlich nach

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Erkennen der massiven Ablehnungsfront überdies in Aussicht, daß auch ohne primäre Chemotherapie, jedoch sofort operiert werden könnte. Dennoch konnten sich die Eltern nicht entschließen, ihre Zweifel abzulegen und verließen mit dem Kind das Krankenhaus, nachdem der Zeuge abschließend gemahnt hatte, nach einer Überlegungsfrist von 2 Tagen neuerlich zu kommen, da Eile geboten sei; ohne zielführende Behandlung würde sich der Tumor innerhalb von Wochen verdoppeln, die Lebenserwartung des Kindes sei für diesen Fall nur mehr mit einem halben bis zu einem ganzen Jahr zu veranschlagen.

Im Anschluß daran suchten die Eltern mit dem Kind die Ärztin Dr. Rozkydal in ihrer Wiener Ordination auf, die ihnen als Alternativmedizinerin genannt wurde. Dr. Rozkydal lehnte eine Behandlung des Kindes mit der Begründung ab, daß sie sich beim Wilmstumor nicht auskenne, sodaß sie ihnen ebenfalls zur Chemotherapie raten müsse. Nachdem Dr. Rozkydal die Problematik der Einstellung der Eltern erkannt hatte und bemerkte, daß diese Dr. Hamer konsultieren möchten, ließ sie sich zu ihrem Schutz die Aufklärung schriftlich bestätigen, daß die Behandlungsmethoden dieses Mannes wissenschaftlich nicht anerkannt seien.

In den folgenden Tagen suchten die Eltern Pilhar tatsächlich Dr. Hamer in seiner Ordination in Köln mit dem Kind auf. Dieser diagnostizierte eine Nierenzyste und einen Leberkrebs. Er entwickelte ihnen seine Theorie eines zweiphasigen Krebsgeschehens, die Krebserkrankung sei auf einen Persönlichkeitskonflikt zurückzuführen, man müsse nur den Konflikt lösen, dann bilde sich das Krebsgeschehen von selbst wieder zurück. Die Nierenzyste bilde sich bereits wieder zurück, dieser Konflikt sei bereits abgeschlossen,

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nicht jedoch im Hinblick auf den Leberkrebs, der sei vor allem darauf zurückzuführen, daß die berufsbedingte Abwesenheit der Mutter vom Kind eine solche Erkrankung ausgelöst habe. Obwohl die Eltern Pilhar wußten, daß Dr. Hamer in Deutschland die Behandlungsbefugnis als Arzt aberkannt wurde, hatten sie nicht nur keine Bedenken gegen die von ihm entwickelte Theorie, sondern entschlossen sich überdies, seinen Anweisungen insoferne zu folgen, als die Zweitbeschuldigte nunmehr bereit war, ihren Beruf und das zu Hause eingeleitete Bauvorhaben aufzugeben, um sich ganz dem Kind zu widmen.

Nach ihrer Rückkehr am 26.5.1995 zog die Familie Pilhar in Verfolgung ihres weiteren Lebensplanes in das Haus der Eltern der Zweitbeschuldigten um. Dort erreichte sie zunächst ein Anruf von Oberarzt Dr. Mann, nachdem die vereinbarte 2-tägige Überlegungsfrist abgelaufen war. Diesem erklärte der Erstbeschuldigte wahrheitswidrig, daß Olivia bereits in einer Klinik sei. Diese zu nennen weigerte sich der Erstbeschuldigte unter Hinweis auf seine Rechtsmeinung, daß den Eltern freie Arztwahl zustehe und überdies, um Zeit zu gewinnen. Ebenso verhielt sich der Erstbeschuldigte am 29.5.1995 in einem Telefonat mit dem Klinikchef des St. Anna – Kinderspitals, Prof. Dr. Gadner. Der Versuch der leitenden Ärzte dieses Schwerpunktkrankenhauses, die Eltern doch noch zu einer Behandlung ihres Kindes in diesem allgemein anerkannten Kinderkrebszentrum zu bewegen, war damit gescheitert.

In der Folge suchten die Eltern Pilhar mehrere Ärzte auf, die ihnen als Alternativmediziner genannten wurde, um von diesen eine Behandlung ihres Kindes zu erreichen. Das Ergebnis dieser Kontaktaufnahmen ging jedoch im Ergebnis über die Verschreibung

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homöopathischer Präparate zur Beruhigung des Kindes nicht hinaus. Eine kompetente Behandlung über allgemeine Erörterungen zur Schul- und Alternativmedizin hinaus konnte nicht erreicht werden.

Da mittlerweile das Pflegschaftsgericht Wiener Neustadt von Primarius Dr. Jürgenssen über die bisherigen Vorgänge informiert wurde, setzte der Pflegschaftsrichter eine Tagsatzung für den 9.6.1995 beim Bezirksgericht Wiener Neustadt an. Auch bei dieser Tagsatzung weigerte sich der Erstbeschuldigte, dem Pflegschaftsrichter einen behandelnden Arzt bekanntzugeben und entwickelte seine Theorie von der richtigen Behandlung seines Kindes nach Dr. Hamer. Da ihm mittlerweile ein Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit zugekommen sei, wonach sämtliche Zytostatika krebserregend seien, könne er sich nicht vorstellen, wie man Krebs mit Krebs therapieren könne. Um die festgefahrene Situation zu entspannen, macht der Pflegschaftsrichter dem Erstbeschuldigten nach Einholung eines neurologischen Gutachtens den Vorschlag, dieser möge eine Ultraschalldiagnose von einem Arzt seiner Wahl einholen, um das Fortschreiten des Krankheitsverlaufes kontrollieren zu können. Dieser Befund sei ihm jedoch längstens innerhalb von 3 Tagen bis zu einer Woche vorzulegen, um die Theorie überprüfen zu können, daß das Tumorwachstum nach Konfliktlösung zum Stillstand gebracht werden kann.

Die Eltern Pilhar suchten daher in der Folge den Radiologen Dr. Hejda in Mödling auf, der jedoch diagnostizieren mußte, daß der Tumor weiter gewachsen sei. Da mit diesem Befund „kein Verständnis für die Neue Medizin“ vom Pflegschaftsrichter zu erwarten war, entschieden sich die Eltern Pilhar nunmehr, „mit dem Kind

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die Flucht anzutreten“. Die daraufhin erfolgte Reaktion des Pflegschaftsgerichtes war für die Eltern Pilhar insoferne „nicht überraschend“, als der Pflegschaftsrichter bereits bei der Tagsatzung vom 9.6.1995 dezitiert in Aussicht gestellt hatte, im Falle eines negativen Befundes und der weiteren Weigerung, einer schulmedizinische Behandlung zuzustimmen, die elterlichen Rechte abzuerkennen, um den unverzüglichen Beginn einer geeigneten medizinischen Behandlung gewährleisten zu können.

Mit Beschluß vom 23.6.1995 entschied das Pflegeschaftsgericht Wiener Neustadt, gemäß § 176 ABGB den Kindeseltern Helmut und Erika Pilhar die Obsorge hinsichtlich ihrer minderjährigen Tochter Olivia zu entziehen und der Jugendabteilung der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt zu übertragen, welche alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen habe, die zur Durchführung der medizinischen Behandlung der Erkrankung der Minderjährigen (Wilmstumor) nach wissenschaftlich anerkannten Behandlungsmethoden erforderlich sind. Gemäß § 12 AußStrGes. wurde der sofortige Vollzug der getroffenen Maßnahme angeordnet. Die schriftliche Ausfertigung des Beschlusses wurde am 27.6.1995 der Jugendabteilung der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt zugestellt, worauf für den nächsten Tag die Abnahme des Kindes in die Wege geleitet wurde. Da Widerstand zu erwarten war, erschienen am 28.6.1995 der Leiter der Jugendabteilung, JIR Franz Gruber und DSA Reisner in Begleitung von zwei Gendarmeriebeamten vor dem Haus Maiersdorf 221, um an der dort gemeldeten Adresse den Beschuldigten das Kind abzunehmen. Es konnten jedoch nur die mütterlichen Großeltern und die Schwester der Kindesmutter angetroffen werden, die erklärten, vom derzeitigen Aufenthalt der Eltern

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und des Kindes nichts zu wissen. Nachdem in einem längeren, intensiven Gespräche den angetroffenen Mitbewohnern der Grund des Einschreitens erklärt und eine Fotokopie des Beschlusses des Pflegschaftsgerichtes – der im übrigen am selben Tag auch mit der Post zugestellt und dessen Empfang von der mütterlichen Großmutter unterzeichnet wurde zurückgelassen wurde, wurden diese überdies dringend ersucht, die Kindeseltern anläßlich des nächsten Telefonates aufzufordern, sich mit den Beamten der Jugendabteilung umgehend ins Einvernehmen zu setzten.

Die Flucht der Eltern führte diese zusammen mit dem Kind zunächst nach Kärnten. Von dort hielten sie telefonischen Kontakt mit den Familienangehörigen in Maiersdorf 221. Beim nächsten Anruf des Erstbeschuldigten eröffnete ihm die mütterliche Großmutter Maria Schilcher, daß die Abnahme des Kindes unter Gendarmerieassistenz versucht wurde. Über Aufforderung hat sie dem Erstbeschuldigten den Inhalt des Beschlusses vorgelesen. Damit haben die Eltern Pilhar auch zur Kenntnis nehmen müssen, daß der sofortige Vollzug der Maßnahme angeordnet wurde. Dennoch konnten sich die Eltern Pilhar nicht entschließen, diese behördliche Maßnahme zu befolgen, sondern wurden in ihrem Entschluß noch bestärkt, ihre Flucht fortzusetzen, die in der Folge über Deutschland und die Schweiz über Vermittlung von Dr. Hamer bis nach Spanien reichte, wo die Eltern mit ihrem Kind in Malaga Quartier nahmen.

Über die tatsächliche Verhinderung der behördlichen Maßnahmen durch Flucht hinaus beauftragten die Eltern Pilhar den damaligen Rechtsbeistand Dr. Wolfgang Vakaresku in Graz auf rechtlichem Wege zu versuchen, den Beschluß aufzuheben. Über Rekurs vom 5.7.1995 entschied

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das Landesgericht Wiener Neustadt als Rekursgericht mit Beschluß vom 19.7.1995, daß dem Rekurs nicht Folge gegeben werde und daß der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei. Inhaltlich entschied das Rekursgericht, daß mit dem angefochtenen Beschluß das Erstgericht den Kindeseltern die Obsorge über das Mädchen entzogen und die elterlichen Rechte des § 144 ABGB zur Gänze der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt übertragen habe. Das Rekursvorbringen zeige mehr als deutlich die derzeitige Unfähigkeit der Kindeseltern, den Ansprüchen des Mädchens auf Gesundheit und Lebensqualität gerecht zu werden. Wer den beigezogenen Ärzten mit dem bloßen Hinweis auf nicht näher beschriebene und daher auch nicht überprüfbare Therapien das Vertrauen entziehe, handle zumindest fahrlässig.

Der Aufenthalt in Malaga war von Dr. Hamer als Vertrauensarzt der Eltern persönlich begleitet. Die Bemühungen gingen dahin, die Aufnahme des Kindes in einer spanischen Klinik zu erreichen, was letztlich nicht gelungen ist. Da mittlerweile über Medienberichte der Aufenthalt der Eltern Pilhar und ihres krebskranken Kindes auch den österreichischen Behörden bekannt wurde, wurde vor allem über Interpol versucht, die Durchsetzung der in Österreich beschlossenen behördlichen Maßnahmen zu erreichen. Da sich der Behördenweg als schwierig erwies, wurde über private Initiative die Ärzteflugambulanz Schwechat beauftragt, die Rückholung des Kindes zu erreichen. Als Kontaktperson wurde Frau Dr. Marina Marcovich gewonnen. Dieser gelang es nach ihrer Ankunft in Malaga ein Vertrauensverhältnis zu den Eltern aufzubauen und einen Meinungsumschwung bei Dr. Hamer dergestalt zu erreichen, daß auch dieser nunmehr zu einer Rückkehr nach Österreich geraten hat. Dieses

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Einvernehmen konnte aber unter offensichtlicher Einflußnahme durch Dr. Hamer nur dadurch erreicht werden, daß Frau Dr. Marcovich eine Erklärung unterfertigte, daß sie als Repräsentantin der österreichischen Regierung garantiere, daß in Österreich nichts gegen den Willen der Eltern geschehe. Abgesehen von den problematischen Umständen der Unterzeichnung war diese Erklärung aber auch nach der Aussage der Zeugin Marcovich nie dahin zu verstehen, daß das Sorgerecht an die Eltern „zurückgegeben“ wurde. Der diesbezüglich relevierte, behördliche Schriftverkehr hat sich nur auf die Frage beschränkt, ob die Eltern festzunehmen seien, um die Flucht zu beenden.

Am 24.7.1995 wurde die mj. Olivia mit ihren Eltern von der Flugambulanz auf den Flughafen Schwechat zurückgebracht. In einem ersten Gespräch mit dem Amtsvormund Dr. Zimper wurde vorerst zur Beruhigung der Situation vereinbart, daß die Eltern mit dem Kind wieder in das Haus nach Maiersdorf zurückkehren dürfen. Über Vermittlung durch den Amtsarzt Dr. Stangl von der Bezirkshauptmannschaft Tulln wurde Prof. Dr. Vanura, Vorstand der Kinderklinik im Allgemeinen Öffentlichen Krankenhaus Tulln gewonnen, der der Aufnahme des Kindes in diesem Krankenhaus zustimmte. Sein Aufnahmebefund hat ergeben, daß das Kind im bereits moribunden Zustand eingeliefert wurde, sodaß ein Behandlungserfolg wegen des äußerst schlechten Allgemeinzustandes des Kindes nunmehr bereits äußerst fraglich war. Jedenfalls kam aber seiner Meinung nach eine Behandlung des Kindes nur im Einverständnis und in Gegenwart der Eltern in Frage, weil dieses psychische Moment aus ärztlicher Sicht nunmehr von ganz entscheidender Bedeutung geworden wäre. Eine Zwangsbehandlung gegen den Willen der Eltern lehnte Prof.

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Vanura ab. Offenbar unter dem Eindruck dieser Situation waren die Eltern Pilhar nunmehr erstmals bereit, auch einer Chemotherapie des Kindes zuzustimmen. Bereits am nächsten Tag haben die Eltern dieses Einverständnis widerrufen, weil sie erkannten, daß diesem, zwar nicht aus rechtlichen, aber aus medizinischen Gründen entscheidende Bedeutung zukomme und sie damit das Einsetzen der Behandlung neuerlich verhindern konnten, die sie nach wie vor nicht zielführend und das Leben des Kindes bedrohend erachteten.

Vor diese Situation gestellt, wendete sich die Amtsvormundschaft neuerlich an das Pflegschaftsgericht Wiener Neustadt mit der Bitte, der veränderten Situation entsprechend weitere Beschlüsse zu fassen. Der Pflegschaftsrichter des Bezirksgerichtes Wiener Neustadt ordnete darauf eine Tagsatzung am 28.7.1995 an Ort und Stelle im Krankenhaus Tulln an. Dieser Tagsatzung wurden zunächst Prim. Dr. Vanura und Dr. Helmut Gadner als Auskunftspersonen beigezogen, von denen das Gericht erfahren mußte, daß wegen des außerordentlichen Tumorwachstums vom mittlerweile 4.200 ml Volumen, der damit zusammenhängenden starken Atmungsbeschwerden und den offensichtlich starken Schmerzen die Überlebenschancen des Kindes auf etwa 50% gesunken seien, welche Annahme sich noch drastisch auf etwa 10-15% reduziere, wenn eine Mitwirkung der Eltern nicht erreicht werden könne. Auch unter Vorhalt dieser kompetenten ärztlichen Meinungen weigerte sich der Kindesvater, der Erstbeschuldigte Helmut Pilhar als Auskunftsperson weiterhin, an einer Behandlung des Kindes mit Chemotherapie mitzuwirken. Das Pflegschaftsgericht hat hierauf ein Team von Fachleuten bestehend aus Prof.Dr.

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Viktor Pickl, DDr. Alois Stacher, Dr. Klaus Lechner und Dr. Heinz Ludwig stellig gemacht und mit einem wissenschaftlich begründeten Gutachten beauftragt. Dieses Gutachten ist zu dem Ergebnis gekommen, daß kein vernünftiger Zweifel am Vorliegen eines Wilmstumors bestehe, ohne Behandlung mit verschiedenen Komplikationen wie Einblutung, Rupturierung, Gefäßkompression, Infektionskomplikationen und Metastasierung des Tumors zu rechnen sei, die mit dem Leben des Kindes nicht vereinbart wären. Somit sei eindeutig festzuhalten, daß ohne medizinische Intervention das Leben des Kindes zu Ende gehen werde. Durch das lange Zuwarten habe sich die Ausgangssituation (Heilungsrate über 95 %) beträchtlich verschlechtert, sodaß nunmehr damit zu rechnen sei, daß auf Grund der hohen Tumorlast die Therapiechancen deutlich niedriger anzusetzen und als Therapieoptionen prinzipiell die Chemotherapie und die operative Entfernung des Tumors zu empfehlen seien. Derzeit sei auf Grund der extremen Tumorgröße ein operatives Vorgehen nicht möglich, daher werde die Einleitung einer Chemotherapie zur Tumorreduktion empfohlen. Nach erreichter Tumorverkleinerung wäre dann mit Hilfe der Operation die Möglichkeit gegeben, den Tumor völlig zu entfernen. Aufgrund der massiven Tumormasse seien die sehr guten Heilungschancen bei früherem Tumorstadium nicht mehr erreichbar und dürften derzeit bei 20 – 40 % liegen. Aufgrund sorgfältiger Abwägung des zu erwartenden Nutzens und auch der möglichen Risken kommt das Gutachten daher zu dem Schluß, daß beim Kind auch ohne Mitwirken der Eltern unverzüglich eine aktive Chemotherapie eingeleitet werden solle. Aufgrund dieser Ergebnisse des Gutachtens hat sich das Pflegschaftsgericht entschlossen, den ursprünglichen Beschluß beizubehalten und die Transferierung sowie

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Behandlung des Kindes in das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien – Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Vorstand Univ.Prof.Dr. Urbanek vorgeschlagen. Diesem Vorschlag ist die Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt unmittelbar nachgekommen und hat das Kind am 29.7.1995 gegen den Willen und Widerstand der Eltern nach Wien transferiert, wo die Zwangstherapierung unmittelbar einsetzte.

Aufgrund der durchgeführten Chemo– und Strahlentherapie verlief die Operation des Tumors erfolgreich, auch die postoperative Chemotherapie verlief durchaus günstig, sodaß das Kind bereits zu Weihnachten und ab dem Jahreswechsel 1995/1996 kurzfristig nach Hause beurlaubt werden konnte. Mit dem zu Beginn der letzten Märzwoche 1996 vorgenommenen Therapieschritt ist die durchgeführte Chemotherapie nunmehr beendet, es sind nun mehr, jedoch regelmäßige Nachkontrollen erforderlich. Das Kind gilt als potentiell geheilt.

Mit Beschluß vom 27.3.1996 hat das Pflegschaftsgericht Wiener Neustadt die Obsorge hinsichtlich der mj. Olivia Pilhar mit Ausnahme aller die medizinische Behandlung und Nachbehandlung sowie Kontrolle der Erkrankung der Minderjährigen (Wilmstumor) sowie Bestimmung ihres Aufenthaltsortes betreffenden Angelegenheiten den Kindeseltern Helmut und Erika Pilhar wieder rückübertragen.

Zu diesen Feststellungen gelangte das Gericht aufgrund der Anzeigen der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt, der dem Verhandlungsprotokoll näher zu entnehmenden, verlesenen, relevanten Aktenteile des Straf- und Pflegschaftsverfahrens, der Aussage der Zeugen Mag. Masicek, Dr. Zimper, Dr. Jürgenssen, Dr. Mann, Dr. Gadner, Dr. Leeb, Dr. Loibner, Dr. Vanura, Dr. Marcovich

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und Dr. Rozkydal, Veronika Schilcher, der Verantwortung der beiden Beschuldigten selbst, der Gutachten der Sachverständigen Univ. Doz. Dr. Werner Scheithauer und Dr. Pius Prosenz sowie der eingeholten Strafkarten und Leumundsnoten.

Vor Gericht bekannten sich beide Beschuldigte nicht schuldig. Sie erklärten, alle Schritte gemeinsam besprochen und beschlossen zu haben und nach wie vor überzeugt zu sein, richtig gehandelt zu haben. Für die Folgen ihres Handelns sind beide Beschuldigte daher gemeinsam strafrechtlich verantwortlich.

Zum Vorwurf der Entziehung der Minderjährigen sind beide Beschuldigte eines vorsätzlichen Handelns insoferne geständig, wenn sie sich dahin verantworteten, daß sie nicht glauben wollten, daß man in Österreich ein Kind seinen Eltern tatsächlich „wegnehmen“ kann. Insbesonders der Erstbeschuldigte bestätigte, daß ihn die Reaktion des Gerichtes nicht überrascht hat, als überraschend habe er es nur empfunden, daß „gleich die Polizei kommt“, daß die Gendarmerie dabei war, um das Kind abzunehmen, habe er angenommen. Erfahren habe er das alles durch das Telefonat, bei dem ihm auch der Inhalt des schriftlichen Beschlusses vorgelesen wurde. Vorher habe es bereits diesbezügliche Gerüchte gegeben, „deshalb seien sie um 3.00 Uhr morgens nach Deutschland aufgebrochen“ (Seite 179 des HV-Protokolles vom 11.10.1996), natürlich hätten sie sich vor der Zwangstherapie gefürchtet. Zu einem Kontakt mit dem von Dr. Leeb empfohlenen Urologen Dawaruka in Nürnberg sei es trotz bereits vereinbarten Termines deshalb nicht gekommen, weil sie „eine Woche später Kenntnis davon erhalten hätten, daß uns das Sorgerecht entzogen worden ist“ (siehe Seite 177 des selben Protokolles). Beweiswürdigend

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war daher davon auszugehen, daß die Beschuldigten bereits auf Gerüchte, daß ihnen das Kind abgenommen werde, die Flucht angetreten haben und die Eröffnung des Beschlusses am Telefon für sie daher nur die Bestätigung ihres bereits gefaßten Vorsatzes sein konnte. Es war daher beweiswürdigend direkter Vorsatz anzunehmen.

Wenn die Verteidigung versucht hat, mit juristischen Kategorien betreffend die Zustellung des Beschlusses zu argumentieren, ist damit für die Beschuldigten im Ergebnis jedenfalls nichts gewonnen. Objektiv ist die Anordnung des sofortigen Vollzuges jedenfalls nicht wegzudiskutieren. Zur subjektiven Tatseite ergäbe sich, folgt man den Argumenten der Verteidigung, lediglich die Änderung, daß ein bewußtes Zuwiderhandeln in Erwartung einer gegenteiligen gerichtlichen Maßnahme jedenfalls bedingten Vorsatz begründet, nämlich den, daß die Möglichkeit einer solchen Entscheidung ernstlich erwogen wurde und man sich mit einem aus ihrer Sicht nachteiligen Ereignisablauf auch abgefunden hat.

Zum Vorwurf der Fahrlässigkeit verantworteten sich die beiden Beschuldigten, daß sie bis zuletzt und noch immer daran glauben, richtig gehandelt zu haben. Sie beriefen sich auf das ihnen vermeintlich zustehende Recht auf freie Arzt- und Therapiewahl sowie auf Selbstbestimmung und wollten damit bis zuletzt nicht zur Kenntnis nehmen, daß sie nicht für sich selbst, sondern über das Leben eines anderen Menschen, wenn auch des eigenen Kindes, also ein selbständiges Rechtsgut zu entscheiden gehabt haben. Die Schulmedizin sei in einer Sackgasse, sie hätten daher zu Recht auf alternative Formen, insbesondere die „Neue Medizin“ des Dr. Hamer vertrauen können. In diesem Vertrauen seien sie nicht nur von Laien, sondern auch

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von Medizinern und durch entsprechende Publikationen auch in medizinischen Fachzeitschriften bestärkt worden. Solange nicht ein abschließendes Urteil über die Methoden Hamer gesprochen sei, könne ihnen ein Anhängen an diese Theorien nicht als Fahrlässigkeit angelastet werden. Den immer schlechter werdenden Gesundheitszustand ihres Kindes hätten sie zwar beobachtet, aber bis zuletzt im Sinne Dr. Hamers darauf vertrauen können, daß mit der Konfliktlösung auch die Wiederherstellung des Gesundheitszustandes des Kindes einhergehen werde.

Der Zeuge Mag. Masicek deponierte vor dem erkennenden Gericht, daß er als Pflegschaftsrichter dem Erstbeschuldigten eindeutig gesagt habe, daß er mit der Abnahme des Kindes „absolut rechnen müsse“ wenn nicht innerhalb von zwei bis drei Tagen der verlangten Röntgenbefund vorgelegt würde. Damit ist das Geständnis der Beschuldigten, daß sie die Abnahme des Kindes erwartet hätten und deshalb auf Flucht gegangen seien, hinreichend überprüft.

Durch die Aussage des Zeugen Dr. Zimper als Bezirkshauptmannstellvertreter und somit Repräsentant der befaßten Behörde als Jugendwohlfahrtsträger konnte klargestellt werden, daß der Antrag auf Strafverfolgung rechtmäßig gestellt und auch weiterhin aufrechterhalten wird. Von einer Rückübertragung des Sorgerechtes an die Eltern in Spanien könne keine Rede sein, die diesbezügliche Korrespondenz habe sich nur auf die im Raum stehende Festnahme der Eltern bezogen. Auch Konsul Esten habe somit nicht über das Sorgerecht verfügen können, schon gar nicht wäre Frau Dr. Marcovich Beauftragte der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt gewesen. Beweiswürdigend besteht daher kein Anlaß, auch nur einen

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subjektiven Eindruck bei den Kindeseltern anzunehmen, es hätte sich in Spanien an der Einstellung der belangten österreichischen Behörden und Gerichte etwas geändert. Eine diesbezügliche Behauptung wurde von den beiden Beschuldigten in der Hauptverhandlung dezidiert auch gar nicht aufgestellt, es sind diesbezüglich nur Andeutungen ergangen.

Der Zeuge Dr. Jürgenssen, Vorstand der Kinderabteilung des Allgemeinen Öffentlichen Krankenhauses Wiener Neustadt, deponierte, daß er die Beschuldigten eingehend über Bedeutung und Kompetenz des Therapiezentrums St.Anna-Kinderspital und damit auf den Ernst der Situation aufmerksam gemacht habe. Er habe auch zum Ausdruck gebracht, daß die Therapie möglichst schnell einsetzen müsse. In einem etwa fünfviertelstündigen Gespräch habe er den Erstbeschuldigten davon zu überzeugen versucht, daß „unsere Methode die richtige sei“. Somit ist als erwiesen anzunehmen, daß die beiden Beschuldigten bereits durch diesen Zeugen auf die Schwere der Erkrankung, den vorhandenen Zeitdruck bei der Entscheidung und die erforderliche Kompetenz des behandelnden Arztes hingewiesen wurden.

Dr. Mann als Oberarzt und Stationsverantwortlicher im St.Anna-Kinderspital bestätigte eine eingehende Information der Kindeseltern im Sinne der richtigen Information durch Prim. Jürgenssen. Er habe die Eltern auch darüber informiert, daß nach dem Ergebnis der Computertomographie kein originärer Lebertumor vorläge, sodaß mit einer leichten Chemotherapie des Auslangen gefunden werden könne, diese aber wegen des zu erwartenden rasch voranschreitenden Prozesses bald einsetzen müsse. Somit ist auch durch diese Zeugenaussage

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erwiesen, daß den Beschuldigten klargemacht wurde, unter welchem Zeitdruck sie für ihre Entscheidung stünden. So ist es auch zu erklären, daß der Zeuge den Beschuldigten andeutete, daß sie „möglicherweise gar nicht mehr selbst entscheiden könnten“, wenn sie das Therapiezentrum entgegen seiner ausdrücklichen Empfehlung wieder verließen. Von einem Übertölpelungsversuch im Sinne der Verantwortung des Erstbeschuldigten kann daher keine Rede sein, zumal der Zeuge den Eindruck gewinnen konnte, daß die Eltern bereits entschlossen waren, „gar nicht dableiben zu wollen“.

Durch die Aussage des Zeugen Dr. Gadner, Klinikvorstand des St.Anna-Kinderspitals, ist in beeindruckender Weise klargeworden, welch komplexes und diffiziles Spezialgebiet der Medizin in diesem Fall angesprochen ist. Der Zeuge vermittelte kraft offensichtlicher Kompetenz einen umfassenden Einblick in die medizinische Behandlung krebskranker Kinder mit derart fachspezifischen Beurteilungskriterien und Behandlungsvarianten, daß beweiswürdigend der Eindruck gefestigt wurde, daß eine bloß laienhafte Beurteilung (etwa durch die Eltern) im konkreten Anlaßfall das Beurteilungsvermögen bei weitem überschreitet. Zumindest eine ex post-Betrachtung kommt damit zu dem Ergebnis, daß die Anmaßung einer laienhaften Beurteilung eine krasse Überforderung bedeutet. So etwa hat der Zeuge klargestellt, wie problematisch das Verlangen nach Prozentzahlen, die Überlebenschancen betreffend vor Abschluß von mehrtägigen Zugangsuntersuchungen ist, daß daraus beileibe keine Unsicherheit in der medizinischen Prognose insgesamt abzuleiten ist und wie gefährlich weil irreführend es ist, vom Krankheitsbild anderer Patienten auf das des eigenen Kindes zu schließen, weil der komplexe

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Begriff der Chemotherapie je nach Anlaßfall sehr zu differenzieren ist.

Ganz im Gegenteil dazu konnte der Zeuge Dr. Leeb medizinische Kompetenz in seiner Zeugenaussage nicht vermitteln. Er habe den Beschuldigten aus einem Fachbuch vorgelesen, glaubt durch Betasten des Bauches des Kindes eine Leberschwellung festgestellt zu haben, Chemotherapie halte er eher für bedenklich, so habe er homöopathische Mittel empfohlen und die Beschuldigten überdies an einen deutschen Urologen weitervermittelt. Somit hat der Zeuge abschließend über Befragen der Verteidigung seinen wohl richtigen Eindruck formuliert, „daß die Pilhars krampfhaft nach einem Befürworter der Ablehnung der Chemotherapie gesucht haben“. Für die Behauptung der Beschuldigten, kompetente Gegenmeinungen eingeholt zu haben, war durch diesen Zeugen nichts zu gewinnen.

Ähnlich fällt die Beurteilung des Zeugen Dr. Loibner aus. Er selbst bezeichnet sich als homöopathischen Arzt, eine Kompetenz in der konkreten Situation ist daher nicht gegeben. Er habe daher auch nur ein Tumor-Leber-Nieren-Mittel verordnet und den Beschuldigten ohnedies gesagt, daß eine Operation nicht zu umgehen sein wird, weshalb er auch Kontakt mit Prof. Sauer in Graz aufgenommen habe, der jedoch dann im Sande verlaufen sei.

Dr. Rozkydal deponierte als Zeugin vor Gericht, daß sie eine Behandlung des Kindes den Eltern gegenüber abgelehnt habe, weil sie auch die Methode Hamer ablehne, weshalb sie sich auch habe unterschreiben lassen, die Eltern darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß Hamer wissenschaftlich nicht anerkannt sei. Nach ihren Kenntnissen spreche der Wilmstumor auf Chemotherapie gut an, es bestehe somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß das Kind

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mit Chemotherapie geheilt werden könne. Ob auch von der Leber die Rede gewesen wäre, könne sie heute nicht mehr sagen. Mit der Aussage dieser Zeugin ist somit für den Standpunkt der Beschuldigten ebenfalls nichts gewonnen.

Dr. Marcovich deponierte als Zeugin vor Gericht, daß sie über die rechtlichen Implikationen andeutungsweise erst in Spanien erfahren habe, als Vertreterin eines Rechtssystems habe sie sich nie gesehen. Sie habe allerdings schon erfahren, daß das Sorgerecht „beim Konsul sei“, den Eltern wäre es entzogen worden. Sonst könne sie dazu nichts sagen. Das ihr vorgelegte schriftliche Dokument habe sie nur deshalb unterschrieben, weil sie es als Behandlungsempfehlung Dris. Hamer aufgefaßt habe, einer Empfehlung kann man folgen oder auch nicht. Das Kind sei in einem sehr schlechten und geschwächten Zustand gewesen, der für jeden Laien erkennbar war.

Dr. Stangl, Amtsarzt in Tulln, sagte als Zeuge vor dem erkennenden Gericht aus, daß er die mj. Olivia selbst nie behandelt habe, weil er dazu als Praktiker überfordert sei. Er bestätigte damit nachdrücklich den durch die Zeugenaussage Dris. Gadner gewonnenen Eindruck über die erforderliche Behandlungskompetenz. Er habe lediglich auf einen Anruf des Erstbeschuldigten reagiert und die Aufnahme in das Krankenhaus Tulln vermittelt, weil durch die offensichtliche Tendenz des Tumors zum Wachsen rasch gehandelt werden mußte. Über seine Eindrücke im Krankenhaus Tulln betreffend die Begleitumstände der Unterbringung des Kindes als Patientin deponierte der Zeuge, daß er schon den Eindruck skurriler, alternativen Gruppen, also zumindest von „Ansätzen zu Sekten“ gehabt habe, Pilhar selbst habe „fast zugemacht“, ein intensives Verhältnis zu Hamer sei ihm aufgefallen.

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Auch Prim. Dr. Vanura vermittelte als Zeuge vor Gericht den Eindruck eines kompetenten Mediziners. Olivia sei in moribundem Zustand eingeliefert worden, sodaß zu überlegen gewesen war, ob sie nicht „zum Sterben nach Hause zu schicken sei“. Deshalb sei auch die Kommission einberufen worden. Die Eltern hätten die Verschlechterung des Gesundheitszustandes ihres Kindes „nicht zur Kenntnis nehmen wollen“, denn wenn zwei Monate alternative Behandlung nicht fruchten, sei es besser, „auf festem Boden zu stehen“. Auch er habe daher eine „massive Indoktrination“ durch Hamer festgestellt, er wäre zweifellos der primäre Vertrauensarzt der Pilhars gewesen, ein bißchen hätte ihn das schon an Sekten erinnert.

Aufgrund der beiden letztgenannten Zeugenaussagen in Verbindung auch mit jener von Frau Dr. Marcovich und dem noch abzusprechenden medizinischen Sachverständigengutachten hat sich somit zum einen beweiswürdigend ergeben, daß eine derart gravierende Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Kindes festzustellen war, welche Tatsachenfeststellung eine ausreichende Grundlage dafür bietet, von einer schweren Gesundheitsschädigung zu sprechen, worauf bei der rechtlichen Beurteilung noch zurückzukommen sein wird. Zum anderen haben sich durch die beiden letztgenannten Zeugenaussagen auch Anhaltspunkte in der Richtung ergeben, daß die in diesem Zusammenhang mehrfach geäußerte Vermutung einer Sektenbildung nicht von der Hand zu weisen ist, was Rückschlüsse auf die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit der Beschuldigten zumindest in diesem letzten Stadium der Ereignisse hätte eröffnen können. In diesem Zusammenhang ist es daher bedauerlich, daß die Beschuldigten es abgelehnt haben, sich vom psychiatrischen

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Sachverständigen explorieren zu lassen. Damit ist dem Gutachter eine entscheidende Befundaufnahme verwehrt worden, weshalb dem auf der Aktenlage basierenden Gutachten nur ein eingeschränkter Beweiswert zukommen kann. Es war daher durch den unmittelbar durch das Gericht gewonnenen Eindruck von den Beschuldigten zu ergänzen und zu überprüfen. Dabei haben sich keine faßbaren Anhaltspunkte für eine allenfalls auch nur phasenweise Einschränkung der Diskretion- oder der Dispositionsfähigkeit der Beschuldigten ergeben, sodaß – mit dem Gutachten – eine uneingeschränkte Zurechnungsfähigkeit festzustellen war.

Der medizinische Sachverständige Univ. Doz. Dr. Scheithauer bestätigte in seinem schriftlichen und in der mündlichen Hauptverhandlung aufrecht erhaltenen Gutachten zunächst die Richtigkeit der Diagnose, daß es sich bei der Erkrankung der mj. Olivia Pilhar um einen eindeutig von der rechten Niere ausgehenden, abgekapselten Tumor, der die Leber imprimierte, gehandelt hat, der in der medizinischen Wissenschaft als sogenannter Wilmstumor bekannt ist. In einer allgemeinen Information zur Erkrankung bezeichnet der Sachverständige diesen als einen äußerst aggressiven und rasch wachsenden, bösartigen Tumor, der ohne entsprechende Behandlung binnen weniger Monate zum Ableben des Patienten führen wird. Je nach Tumorausbreitung unterscheide man vier Erkrankungsstadien, welche die Prognose der Erkrankung wesentlich determinieren. Die therapeutischen Möglichkeiten umfaßten erstens eine operative Entfernung, zweitens prä- bzw. postoperative Chemotherapie und drittens eine etwaige zusätzliche prä- bzw. postoperative Bestrahlung, die in der Regel kombiniert eingesetzt werden. Die Behandlung sollte ausschließlich spezialisierten Tumorzentren vorbehalten sein

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und in Anlehnung an internationale kooperative Therapieprotokolle (z.B. SIOP-93 Nephroplastromstudie) erfolgen. Im Tumorstadium I und II bedarf es nach heutigem Ermessen zusätzlich zur Operation zumeist nur einer milden Chemotherapie, ab dem Stadium III müssen intensivere Chemotherapieschemata bzw. auch Strahlentherapie zum Einsatz gelangen. Die Prognose dieser Tumorerkrankung ist trotzdem es sich um einen äußerst aggressiven Tumor mit rascher Wachstumstendenz handelt – im Falle einer frühzeitigen und adäquaten Therapie ausgezeichnet. Wie durch internationale multizentrische Studien belegt werden konnte, betrage die Heilungschance bei adäquater Therapie im Stadium I etwa 97 %, 90 bis 95 % im Stadium II und 85 bis 91 % im Stadium III. Zur Beurteilung des Krankheitsverlaufes zwischen Diagnoseerstellung und der um rund elf Wochen verzögert eingeleiteten Tumortherapie führte der Sachverständige aus, daß nach dem befundeten Ergebnis seriell erfolgter computertomographischer Verlaufskontrollen des Abdomen (Universitätsklinik für Radiodiagnostik, Univ.Doz.Dr. Hübsch) bei der letzten Untersuchung am 03.08.1995 erstmals drei Lebermetastasen festgestellt bzw. der bereits auf den Lungen-CT-Bildern vom 26.07.1995 bestehende zusätzliche Verdacht auf Lungenmetastasen bestätigt werden konnte. Laut serieller Bildauswertung/Befundung seitens Herrn Univ.Doz.Dr. Hübsch sind die Fernmetastasen im Bereich von Leber und Lunge nicht vor dem 19.05.1995 entstanden. Daraus resümiert der Sachverständige, daß sich bei der Erstdiagnose mit verschiedenen diagnostischen Methoden und nach Ansicht aller involvierten Experten ein nur auf die Niere begrenztes Tumorgeschehen gefunden hat. Es dürfte sich somit um ein Tumorstadium I gehandelt haben, wobei mit der geplanten

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präoperativen, niedrig dosierten Chemotherapie und anschließender radikaler Tumorentfernung eine Heilungschance von zumindest 95 % zu erwarten war. In einem Zeitraum von zehn bis elf Wochen, um den der Beginn der Therapie verzögert wurde, habe sich, gemäß dem Ergebnis seriell durchgeführter Computertomographien, eine massive Verschlechterung des Tumorleidens abgezeichnet. Anfang August fanden sich nebst einer enormen Größenzunahme des Primärtumors auch Leber- und Lungenmetastasen, entsprechend einem Tumorstadium IV. Dementsprechend habe sich der Allgemeinzustand des Kindes massiv verschlechtert. Aufgrund des zu diesem Zeitpunkt weit fortgeschrittenen Tumorleidens mußte eine aggressivere therapeutische Strategie (intensivere Chemotherapie und Bestrahlungstherapie) zur Anwendung gelangen. Das an und für sich immer noch relativ geringe Risiko dieser inzwischen unumgänglich gewordenen Behandlung wurde durch den schlechten Allgemeinzustand der Patientin zweifellos potenziert. Die Patientin mußte einige Tage bis Wochen intensivmedizinisch betreut bzw. künstlich beatmet werden. Auch wenn gegenwärtig eine Definitivheilung möglich erscheine, ist durch die intensivere Behandlungsstrategie das Risiko etwaiger Spätschäden (lokale Wachstumsstörungen, Strahlennephritis, Zweimalignomerkrankung) höher als dies im Falle einer Behandlung der Tumorerkrankung zum Zeitpunkt der Erstdiagnose gewesen wäre. Aufgrund der Anamnese des Kindes, diverser Medienberichte und in Kenntnis der fortgeschrittenen Tumorerkrankung muß darauf geschlossen werden, daß die offensichtlich chronischen und besonders zuletzt heftigen Tumorschmerzen des Kindes nicht adäquat behandelt worden sind. Es sei allgemein bekannt, daß chronische Schmerzen eine signifikante Morbidität und

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Beeinträchtigung der Lebensqualität der Betroffenen bewirken. Die frühzeitige und ausreichende symptomatische Therapie des Krebsschmerzes stelle daher – entgegen der Thesen Hamers – einen wichtigen und zentralen Bestandteil beim Management jeglicher Tumorerkrankung dar.

Dieses mit 20.09.1995 datierte schriftliche Gutachten hat der Sachverständige in der mündlichen Hauptverhandlung Ende des Jahres 1996 wie folgt aktualisiert:

Eine Zusammenfassung der Kontrolluntersuchungen bis 07.08.1996 ergibt, daß derzeit kein Hinweis auf ein Rezitivgeschehen, also kein Hinweis darauf besteht, daß die Erkrankung bei der mj. Olivia wieder aufgetreten ist. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei die Patientin ohne jeglichen Tumorhinweis und daher potentiell geheilt. Nach wie vor ergeben sich keine Hinweise, daß die Leber bereits ursprünglich betroffen war. Es habe sich daher ausschließlich um einen Nierentumor im Frühstadium, also Tumorstadium I zum Zeitpunkt der Erstvorstellung gehandelt. Auch in diesem Frühstadium würde von der medizinischen Wissenschaft in Europa eine präoperative, jedoch milde Chemotherapie angewendet, weil bei sofortiger Operation das Risiko bestehe, daß die Kapsel platze. Chemotherapie sei somit nicht gleich Chemotherapie, es gebe etwa 60 Substanzen mit rund 2000 Kombinationsmöglichkeiten. Zum Zeitpunkt des Beginnes der Chemotherapie habe sich die Krankheit wesentlich verschlimmert gehabt, zu einem Tumorstadium IV mit Lungen- und Lebermetastasen, die Überlebenswahrscheinlichkeit war von 97 % auf rund 50 % gesunken, der Durchmesser des Tumors von 8 auf 30 cm angewachsen. Somit sei der Bauch des Kindes bereits merkbar aufgebläht gewesen, die intensive Schmerztherapie spreche für

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erhebliche Schmerzen des Kindes, wenngleich das Schmerzempfinden subjektiv sei. Durch die Chemotherapie selbst seien wegen der möglichen Gegenstrategien keine Schmerzen zu veranschlagen.

Das St.Anna-Kinderspital sei das österreichweit anerkannte, kompetente Therapiezentrum für Krebserkrankungen. Die Zuweisung durch Prim. Jürgenssen sei daher korrekt gewesen, zumal auch eine Meldepflicht bestehe, da die statistischen Aufzeichnungen zentral dort geführt würden. Auf diesen europaweit koordinierten Aufzeichnungen beruhe auch die vom St. Anna Kinderspital verwendete Therapiestudie SIOP 9 GPO. Sie stelle den letzten Stand der medizinischen Wissenschaft dar, eine Alternative zu ihr gebe es nicht. Demgegenüber sei die von Dr. Hamer vertretene Theorie keine wissenschaftlich anerkannte Methode, es existiere keine wissenschaftlich vorgesehene Publikation. Was daher die von der Verteidigung vorgelegten Publikationen betreffe, sei festzuhalten, daß diese vorwiegend Veröffentlichungen der Laienpresse seien. Lediglich zwei Artikel seien in allerdings wissenschaftlich nicht begutachteten Fachzeitschriften veröffentlicht worden. Keine dieser Publikationen beziehe sich aber auf den Wilmstumor, sie seien daher keine geeignete Informationsquelle für den konkreten Anlaßfall. Was den vorgelegten Artikel von Prof. Abel betreffe, beziehe sich dieser auf die Fehler der Vergangenheit, die ja von der Schulmedizin zugegeben würden. Heute therapiere man wesentlich differenzierter. Was die angesprochenen Spontanheilungen anbelange, lägen diese statistisch unter dem Wert von 0,1 %, somit kein zu empfehlender Therapievorschlag, ganz abgesehen davon, daß in dieser Quote auch Fehldiagnosen enthalten seien.

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Das vorgelegte und vorgetragene medizinische Sachverständigengutachten Dris. Scheithauer hat sich als schlüssig und nachvollziehbar erwiesen. Es war daher beweiswürdigend in die Urteilsfeststellungen zu übernehmen. An der Kompetenz des Sachverständigen zu zweifeln besteht kein Anlaß. Was daher den Antrag der Verteidigung auf Beziehung eines weiteren medizinischen Sachverständigen anlangt, fehlt es an der strafprozessual vorgegebenen Voraussetzung, sodaß der Antrag gemäß § 126 Abs.1 StPO abzuweisen war. Soweit die Befundaufnahme als mangelhaft kritisiert wurde, ist zu erwidern, daß dem kompetenten Sachverständigen in Erinnerung an seinen Sachverständigeneid sowohl zugetraut wie zugemutet werden darf, daß er nur jene Schlüsse gezogen hat, die durch die Befundaufnahme gedeckt sind, wie er mehrfach versichert und dokumentiert hat. Es liegen auch die Voraussetzungen nach § 125 StPO daher nicht vor. Das gilt auch und vorallem für die beharrlich vorgebrachte Einwendung der Beschuldigten, es sei bei ihrem Kind von vorneherein auch ein Lebertumor vorgelegen, die eindeutig als widerlegt anzusehen ist. Wenn schließlich dem Sachverständigen aus seiner beruflichen Tätigkeit heraus auch noch der Vorwurf gemacht wurde, er könne oder wolle nicht objektiv begutachten, kann nur erwidert werden, daß er in seiner ruhigen, geduldigen und ausschließlich sachbezogenen Argumentationsweise auf das erkennende Gericht einen derart über jeden Zweifel erhabenen Eindruck gemacht hat, daß der Antrag auch aus diesem Aspekt abzuweisen war.

Im übrigen ist im Bezug auf diese und auch die übrigen zur Abweisung gelangten Anträge auf die bereits mündlich verkündete Begründung zu verweisen, die schriftlich

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dem Verhandlungsprotokoll zu entnehmen ist. Zur Verdeutlichung und Ergänzung ist folgendes auszuführen:

Die Verteidigung hat auch den Antrag gestellt, ein weiteres Sachverständigengutachten aus dem Gebiet der Neuen Medizin bzw. ein Gutachten einzuholen, welches von beiden Positionen abgehoben ist, dies zum Beweisthema der Tauglichkeit der Methode Hamer. Dieser Antrag entspricht dem Bemühen der Beschuldigten und der Verteidigung, die „Methode Hamer“ zu einer der „Schulmedizin“ gleichwertigen Methode hochzustilisieren. Abgesehen davon, daß es nicht Aufgabe und Kompetenz eines Strafgerichtes sein kann, einen medizinischen Richtungsstreit zu entscheiden, hat sich die „Methode Hamer“ nach dem erhobenen und objektivierten Krankheitsverlauf im konkreten Fall als nicht zielführend erwiesen. Der Antrag, darüber ein gesondertes Gutachten einzuholen, war daher abzuweisen.

Der weitere Antrag auf Einholung eines Gutachtens betreffend Begleit- und Spätfolgen zur Prüfung, welche Folgen die schulmedizinische Behandlung des Kindes haben könnte, war einerseits deshalb abzuweisen, weil darüber auch im Gutachten Scheithauer abgesprochen wurde, andererseits aber auch deshalb, weil die damit relevierte Abwägungsfrage von Rechtsgütern der rechtlichen Beurteilung vorbehalten bleiben muß.

Der Antrag auf neuerliche Einvernahme Dris. Gadner als Zeugen vor dem erkennenden Gericht war schon deshalb abzuweisen, weil seine Depositionen insoferne theoretischer Natur waren und bleiben müssen, weil er selbst das Kind nicht behandelt hat. Sein Beweisthema ist daher durch das medizinische Sachverständigengutachten abgedeckt. Über seinen einzigen direkten, telefonischen

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Kontakt mit dem Erstbeschuldigten wurde bereits abgesprochen.

Die Verteidigung hat auch die Einvernahme Dris. Hamer als Zeugen vor dem erkennenden Gericht beantragt. Abgesehen von den prozessualen Schwierigkeiten und Hindernissen, die einer solchen Zeugenaussage entgegenstellen (siehe die schriftlich festgehaltene Begründung auf S.75 des Hauptverhandlungsprotokolles vom 11.11.1996) ist noch einmal darauf hinzuweisen, daß seine Position als Beschuldigter einerseits und als allfälliger Zeuge andererseits im Gesamtzusammenhang so bewertet werden muß, daß seiner allfälligen Aussage auch zur subjektiven Tatseite der Beschuldigten kein relevanter Beweiswert zukommen kann, weil eine klare Trennung der Beweisthemen für ihn als Zeugen einerseits und als Beschuldigten andererseits nicht möglich ist.

Schließlich hat die Verteidigung eine Reihe von Dokumenten vorgelegt zum Beweis dafür, daß die Beschuldigten zumindest subjektiv nach Studium dieser Unterlagen der Meinung sein durften, die Chemotherapie sei ihrem Kind nicht zumutbar. Soweit diese Beweisstücke angenommen und verlesen wurden, erfolgte ihre Würdigung vorweg bereits durch das Gutachten des Sachverständigen aus medizinischer Sicht. Sie sind nicht fallbezogen und daher auch in rechtlicher Hinsicht unbeachtlich. Im übrigen wird gerade das in der rechtlichen Beurteilung zu berücksichtigen sein. Soweit sie keine Berücksichtigung durch das Gericht fanden, ist ebenfalls auf die rechtliche Beurteilung zu verweisen.

In rechtlicher Hinsicht ist zunächst die Berechtigung der Verantwortung der Beschuldigten zu überprüfen, daß sie das Recht auf freie Arzt- und

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Therapiewahl sowie auf Selbstbestimmung für sich hätten. Mit dieser zentralen Erklärung zur Begründung ihres Vorgehens, übersehen die Beschuldigten beharrlich, daß sie nicht über sich selbst, sondern über Leben und Gesundheit eines anderen Menschen, wenn auch ihres eigenen Kindes, zu entscheiden gehabt haben. Dieses selbständige Grundrecht des Kindes negieren die Beschuldigten, sie betrachten es als ihren Besitz. Dieses selbständige Interesse eines Kindes ist jedoch in der österreichischen Rechtsordnung selbstverständlich verankert und auch für den Bereich des Strafrechtes längst anerkannt (siehe etwa Leukauf-Steininger, 3.Auflage, Rn 8 und 9 zu § 110 StGB). Es liegt somit kein Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund (etwa § 10 StGB) vor.

Das Vergehen der Entziehung eines Minderjährigen aus der Macht des Erziehungsberechtigten begeht, wer eine minderjährige Person der Macht des Erziehungsberechtigten entzieht oder sie vor ihm verborgen hält. Subjekt der Tat ist jeder, dem das Erziehungsrecht nicht zusteht, der also selbst keine Erziehungsgewalt (mehr) über den Minderjährigen hat. Bei ehelichen Kindern steht das Erziehungsrecht grundsätzlich den Eltern so lange zu, bis es ihnen entzogen wurde. Mit dem zitierten Beschluß des Pflegschaftsgerichtes Wiener Neustadt wurde den Beschuldigten das Obsorgerecht und zwar zur Gänze (siehe die zitierte Entscheidung des Rekursgerichtes) entzogen, sodaß der objektive Tatbestand erfüllt ist, zumal es keinem Zweifel unterliegen kann, daß die Flucht der Eltern es dem gesetzlichen Amtsvormund unmöglich (oder doch sehr erheblich erschwert) hat, mit der Minderjährigen jederzeit Kontakt aufzunehmen und solcherart in geeigneter Weise seine Schutzrechte auszuüben. Zur subjektiven Tatseite wird

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zumindest bedingter Vorsatz verlangt. Wie der oben angeführten Beweiswürdigung und den Feststellungen zu entnehmen ist, haben beide Beschuldigte mit direktem Vorsatz zumindest in Form der Wissentlichkeit gehandelt. Es ist für sie aber auch dann nichts gewonnen, wenn nur bedingter Vorsatz anzunehmen gewesen wäre.

Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer Acht läßt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist und die ihm zuzumuten ist und deshalb nicht erkennt, daß er einen Sachverhalt verwirklichen könne, der einem gesetzlichen Tatbild entspricht. Das Maß der im Einzelfall objektiv gebotenen Sorgfalt bestimmt sich zunächst nach Rechtsvorschriften, fehlt es für den konkreten Lebensbereich an Rechtsvorschriften, aus den in dem betreffenden Verkehrskreis geübten Verkehrsnormen. Zu diesen Verkehrsnormen zählen die sogenannten Kunstregeln, die eine Zusammenfassung der auf den verschiedenen Sachgebieten anerkannten Sorgfaltsregeln darstellen. Wer diese Regeln einhält, bewegt sich innerhalb des sozial adäquaten Risikos, sonst handelt er sozial inadäquat. Für den Bereich der sozial adäquaten Behandlung krebskranker Kinder bildet die SIOP 9 GPO-Studie die in der medizinischen Wissenschaft derzeit allgemein anerkannte Verkehrsnorm. Die Beschuldigten haben nach Aufklärung und in Kenntnis dieser von den ärztlichen Kapazitäten geübten Vorgangsweise dieser bewußt entgegengehandelt und, sie zu verhindern gesucht und damit ihrerseits sozial inadäquat, also objektiv fahrlässig gehandelt.

Die objektive Sorgfaltswidrigkeit indiziert die subjektive. Ergeben sich allerdings aus dem Tatgeschehen und der Person des Täters konkrete Anhaltspunkte dafür, daß

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gerade dieser Täter den objektiven Sorgfaltsanforderungen nicht nachkommen konnte, dann bedarf es einer genauen Ermittlung und Feststellung der individuellen Fähigkeiten der Betreffenden. Mängel im intellektuellen Bereich entlasten, jene im emotionellen Bereich nicht. Wie sich aus dem psychiatrischen Gutachten ergeben hat, liegen bei beiden Beschuldigten keine intellektuellen Mängel vor. Ihre Weigerung, das Kind einer schulmedizinischen Behandlung zuzuführen, ist daher dem emotionellen Bereich zuzuordnen, wofür das zitierte Gutachten ebenfalls hinreichend Grundlage bietet, wenn es etwa von Fanatismus spricht.

Doch selbst wenn gerade in diesem Bereich die Verteidigung eine Reihe von ihrer Meinung nach exkulpierenden Umständen ins Treffen geführt hat, ist aus rechtlichen Gründen für die Beschuldigten nichts gewonnen. Denn ein Sorgfaltsmangel liegt auch dann vor, wenn sich der Täter auf die Handlung trotz seiner ungenügenden körperlichen oder geistigen Voraussetzungen einläßt, vor allem, wenn er es versäumt hat, sich das zur Ausübung der bestimmten Tätigkeit erforderliche Wissen und Können zu verschaffen. Läßt sich jemand auf eine bestimmte Tätigkeit ein, die ein besonderes Können oder Wissen voraussetzt und daher nur von demjenigen vorgenommen werden kann, der über die erforderlichen Kenntnisse verfügt und versäumt er es, sich diese erforderlichen Kenntnisse zu verschaffen, dann hat er für diesen Sorgfaltsmangel als Einlassungsfahrlässigkeit einzustehen. Eine solche Einlassungsfahrlässigkeit liegt jedenfalls vor. Wie ebenfalls bereits festgestellt (siehe insbesondere die Aussage des Zeugen Dr. Gadner), ist der Kreis der Behandlungsformen für krebskranke Kinder ein derart spezifisches und subtiles Fachgebiet, das nur von besonders ausgebildeten und erprobten Kapazitäten auf

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medizinischem Gebiet erfaßt und verstanden werden kann. Veranschlagt man nun noch zusätzlich den Zeitdruck, unter dem die Beschuldigten für ihren Entschluß gestanden sind, ergibt die Fallprüfung, daß die Beschuldigten keine Chance hatten, sich ausreichend und umfassend zu informieren, auf welche Quellen sie sich auch immer berufen mögen. Die von ihnen angebotenen sind es jedenfalls auf keinen Fall. So konnte es nicht verwundern, daß selbst der Erstbeschuldigte zugeben mußte, „zwischen zwei Mühlsteine geraten zu sein“. Anders, jedoch ebenso treffend hat es der sachverständige Zeuge Prof. Dr. Vanura formuliert, wenn er deponierte, daß man in der Situation der Beschuldigten „besser auf festem Boden zu stehen hat“.

Einer speziellen Überlegung bedarf der Zeitpunkt, ab dem den Beschuldigten zweifelsfrei fahrlässiges Handeln vorzuwerfen ist. Es muß ihnen als Vertreter eines „mündigen Patienten“ zugebilligt werden, eine erste ärztliche Diagnose und einen ersten Therapievorschlag durch Auskunft bei einem weiteren kompetenten Experten zu überprüfen. Einen solchen konnten die Beschuldigten nicht präsentieren, im Beweisverfahren wurde über Qualität und Auskunft der Vertreter der sogenannten alternativen Medizin abgesprochen. Auch Dr. Hamer ist ein solcher nicht. Die Aberkennung seiner Behandlungsbefugnis disqualifiziert ihn im gegebenen Zusammenhang jedenfalls. Somit muß längstens ab jenem Zeitpunkt, ab dem sich die Entscheidung des Pflegschaftsgerichtes abgezeichnet und die Beschuldigten auch damit gerechnet haben, der Beginn strafbaren fahrlässigen Verhaltens angesetzt werden, also jener Zeitpunkt als relevant angesehen werden, in dem den Beschuldigten von medizinisch und gerichtlich kompetenter Stelle die Gefährlichkeit ihres Verhaltens eindringlich zur

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Kenntnis gebracht wurde. Zumindest ab diesem Zeitpunkt muß den zweifellos in Sorge um ihr Kind handelnden Eltern rechtmäßiges, weil richtiges Verhalten auch zugemutet werden.

Zum anderen hat sich im Laufe des Verfahrens ergeben, daß die Beschuldigten auch nach Aberkennung ihrer elterlichen Rechte und Rückkehr in den Machtbereich des Jugendwohlfahrtsträgers zwar nicht mehr rechtlich, wohl aber tatsächlich auf die Therapierung ihrer Tochter Einfluß nehmen konnten und es auch weiterhin getan haben, indem sie Chemotherapie noch immer ablehnten und damit eine Mitwirkung an der Behandlung ihrer Tochter im psychologischen Bereich als Eltern und Bezugspersonen verweigerten. Sie verringerten damit die Überlebenschancen ihres Kindes und verlängerten die Zeitspanne des Tumorwachstums in die kritische Endphase und provozierten damit ein weiteres gerichtliches Verfahren mit einem weiteren Zeitverlust für das Einsetzen einer geeigneten Behandlung, sodaß die Ausdehnung des Tatzeitraumes bis zum tatsächlichen Beginn der Zwangstherapierung zu Recht erfolgte und im Gesamtkontext der bereits abgesprochenen Fahrlässigkeitsdogmatik auch zu einer diesbezüglichen Verurteilung führen mußte.

Einer weiteren speziellen Beurteilung bedarf die Verantwortung der Beschuldigten, sie hätten sich wegen der zu befürchtenden Nebenwirkungen und Spätfolgen gegen die Chemotherapie ausgesprochen. Damit ist die Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßigem Alternativverhalten als Erfolgszurechnung angesprochen. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß einer lebenserhaltende Therapierung selbst bei Gefahr von Spätfolgen in einer Interessenabwägung für das Kind jedenfalls der Vorzug zu

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geben ist. Es ist bis zuletzt unverständlich geblieben, wie dieses Argument überhaupt ernstlich ins Treffen geführt werden konnte. Bei sorgfältigem Verhalten der Eltern wäre der Erfolg gar nicht, zumindest aber in wesentlich geringerer Gestalt eingetreten.

Somit ist resümierend festzuhalten, daß es Aufgabe des Verfahrens war, ausgehend von einer ex post Betrachtung das Verhalten der Beschuldigten in der gebotenen ex ante Betrachtung zu kontrollieren. Fest steht, daß die sogenannte schulmedizinische Behandlung des Kindes selbst in der kritischen Endphase noch zum Erfolg geführt hat, also der richtige Weg war. Jene Kriterien, die die Beschuldigten veranlassen hätten müssen, den im nachhinein als richtig erkannten Weg auch in ihrer konkreten schwierigen Situation von vornherein zu gehen, sind oben angeführt. Sie haben die ernsten und eindringlichen Warnungen von Experten mißachtet und sich auf schwankenden Boden begeben. Sie haben fahrlässig gehandelt.

Gemäß § 88 Abs. 1 StGB ist zu bestrafen, wer fahrlässig einen anderen am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt. Hat die Tat eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1) zur Folge, so ist der Täter höher zu bestrafen. Aus dem Zitat des § 84 Abs. 1 StGB ergibt sich, daß alle Erscheinungsformen der schweren Körperverletzung im Sinne dieser Gesetzesstelle erfaßt werden, somit auch sowohl die länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung als auch die an sich schwere Gesundheitsschädigung. Ob eine Gesundheitsschädigung als an sich schwer zu qualifizieren ist, ist als Rechtsfrage zu lösen, wobei jedoch der jeweilige Stand der Medizin entsprechend zu berücksichtigen ist. Abgesehen von der diesbezüglich medizinischen Qualifizierung in dem in die

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Beweiswürdigung und damit in die Urteilsfeststellungen übernommenen medizinischen Sachverständigengutachten genügt es, allein auf die Formulierung des Zeugen Prim. Dr. Vanura hinzuweisen, daß das Kind bei ihm in bereits moribundem Zustand eingeliefert wurde. Die Qualifizierung dieses bedenklichen Allgemeinzustandes des Kindes als ihm durch die Verzögerung der geeigneten Heilbehandlung zugefügt, als schwere Gesundheitsschädigung steht schon deshalb rechtlich außer jedem Zweifel.

Das festgestellte Verhalten der Beschuldigten erfüllt daher auch den Tatbestand der fahrlässigen schweren Körperverletzung nach § 88 Abs. 1 und 4, 1. Fall StGB.

Bei der Strafbemessung war den Beschuldigten ihr bisher ordentlicher Lebenswandel als mildernd, die Begehung zweier gerichtlich strafbarer Handlungen hingegen als erschwerend zuzurechnen.

Bei einer theoretischen Strafobergrenze von drei Jahren ist daher eine mit 8 Monaten ausgesprochene Freiheitsstrafe schuldangemessen.

Gemäß § 43 Abs. 1 StGB hat das Gericht bei einer zwei Jahre nicht überschreitenden Freiheitsstrafe diese bedingt nachzusehen, wenn anzunehmen ist, daß die bloße Androhung der Vollziehung allein oder in Verbindung mit anderen Maßnahmen genügen wird, den Rechtsbrecher von weiteren strafbaren Handlungen abzuhalten. Die getroffenen pflegschaftsbehördlichen Maßnahmen und der Umstand, daß die Beschuldigten als Eltern zweifellos, wenn auch irregeleitet, zum Wohl ihres Kindes zu handeln glaubten, überwiegen als Rechtfertigung einer günstigen Zukunftsprognose gegenüber dem hohen Grad ihrer Schuld und ihrer Schuldeinsichtigkeit auch nach der Tat. Aus eben

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diesen Überlegungen stehen letztendlich auch generalpräventive Erwägungen nicht entgegen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die bezogene Gesetzesstelle.

Landesgericht Wiener Neustadt

Abteilung 40, am 11.11.1996

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