Ein Kind wird zur Symbolfigur: Ohnmacht und Ignoranz der Schulmedizin treiben immer mehr Patienten in die Hände obskurer Heiler.

Von SONJA BETTEL und
CHRISTIAN SKALNIK

Tapfer bahnt sich das kleine Mädchen ihren Weg durch die Menschenmenge. Mit großen Augen verfolgt sie das Treiben vor der Kinderklinik im spanischen Malaga. Wenn das Blitzlichtgewitter der Fotografen allzu intensiv wird, versteckt sie sich erschrocken hinter der Mutter. Der aufgeblähte Bauch, der sich mittlerweile handballgroß unter dem weißen T-Shirt wölbt, bildet einen makabren Kontrast zu den dünnen Beinen. Wann immer ihr Reporter ein Mikrofon unter die Nase halten, wiederholt sie den gleichen Satz: „Danke, es geht mir gut.“

Seit sie von den Heerscharen von Reportern und Kameraleuten im spanischen Malaga gestellt wurden, wissen auch die drei Kinder von Helmut und Erika Pilhar, daß ihre seit Wochen andauernde Reise quer durch Europa nicht der von den Eltern versprochene „Abenteuerurlaub“ ist.

Im „Las Vegas Hotel“ an der spanischen Südküste scheint die Flucht der Pilhars ihr vorläufiges Ende gefunden zu haben. Von Reportern belagert, von der Polizei bewacht, verläßt Helmut Pilhar das Hotelzimmer inzwischen nur noch, um den örtlichen Behörden Rede und Antwort zu stehen. „Inzwischen ist das Ganze zu einer Art Menschenhatz geworden“, beobachtet die mit der Ärzteflugambulanz nach Malaga geeilte Wiener Ärztin Marina Marcovich das Treiben um die an Nierenkrebs erkrankte Olivia mit gemischten Gefühlen.

Am Ende könnten die grellen Scheinwerfer der Öffentlichkeit aber auch ihr Gutes haben: Vergangenen Freitag brachten Olivias Eltern die Patientin zu einem spanischen Spezialisten in die Kinderklinik von Malaga. Dort, so berichtet Marcovich vom Ergebnis ihrer Vermittlungsversuche, wurde die schon vom Wiener Neustädter Kinderarzt Olaf Arne Jürgenssen erstellte Diagnose „Willms-Tumor“ bestätigt. Obwohl, so Marcovich, „die spanischen Ärzte derzeit keine akute Lebensgefahr sehen“, rieten auch sie zur sofortigen Chemotherapie.

Freitag mittag unterschrieben Olivias Eltern, Marina Marcovich, der spanische Honorarkonsul Walter Ensten und Ryke Geerd Hamer einen Kompromißvorschlag zur weiteren Vorgehensweise: Zwar verweigern die Eltern und der selbsternannte Krebsberater Hamer nach wie vor jede Chemotherapie und andere medizinische Intervention (Hamer: „Daran würde sie sterben“), Olivia soll aber zumindest zu regelmäßigen Kontrollen in die Klinik von Malaga gebracht werden. Im September oder Oktober, so Hamer, werde die Geschwulst so weit geschrumpft sein, daß einer Operation zu Hause in Österreich nichts mehr im Wege stünde.

Sein Einlenken erklärt der apodiktische Schulmedizin-Verachter Hamer so: Zwar sei er nach wie vor davon überzeugt, daß es keine bösartigen Tumore gebe. „Olivia„, trichterte er den Journalisten ein, „kann damit sicher auch 100 Jahre alt werden.“ Allerdings dürfte auch den Apologeten der „Neuen Medizin“ das rapide Wachstum des Geschwürs überrascht haben. „Die Zyste ist etwas Gutes. Aber des Guten zuviel“, erklärte er Freitag morgen gegenüber profil, warum er den Eltern nicht länger vom Besuch eines konventionellen Krankenhauses abraten will.

Wie akut der Behandlungsbedarf tatsächlich ist, will der Krebsspezialist und Primar des St. Anna Kinderspitals, Helmut Gadner, nächste Woche bei einem Lokalaugenschein vor Ort klären.

Olivias Mutter glaubt jedenfalls weiter unbeirrt an Hamers Theorien. „Die Schulmedizin ist einfach Irrsinn“, betet sie die beliebtesten Stereotypen nach. „Die Neue Medizin weist einen Weg heraus aus dem Wahnsinn.“ „Von Anfang an“, so Erika Pilhar, habe „Doktor Jürgenssen nichts als Panik verbreitet“. Das Schockerlebnis, als sie bei ihrem Kurzaufenthalt im St. Anna Kinderspital mit den kleinen haarlosen Chemotherapie-Patienten konfrontiert waren, hätte für sie und ihren Mann nur den letzten Ausschlag zur Verweigerung dieser Art von Medizin gegeben.

„Es mag sein“, faßt Primar Helmut Gadner die mittlerweile im St. Anna Kinderspital abgehaltene Manöverkritik zusammen, „daß sich die Eltern überfahren gefühlt haben.“ Zwar habe es mehrere Gespräche gegeben, das sogenannte Erstgespräch, bei dem über alle Einzelheiten informiert werde, sei aber erst für einen Zeitpunkt nach Beginn der Chemotherapie angesetzt gewesen.

„Die Schulmedizin ist immer wieder selbst schuld, daß sich die Leute vor ihr fürchten“, übt auch Peter Leinzinger, Gerichtsmediziner der Universität Graz und Kurpfuscher-Referent der steirischen Ärztekammer, Selbstkritik, „die Ärzte haben einfach keine Zeit, den Patienten alles über die Krankheit und die Therapie zu erklären.“ Dabei sollte sich herumgesprochen haben, daß umfassende, geduldige Aufklärung besonders nach der Diagnose Krebs vonnöten ist. „Gerade wenn Kinder betroffen sind“, erklärt Reinhard Topf, Psychologe im St. Anna Kinderspital, „schaltet sich bei vielen Eltern die Vernunft aus. Sie suchen bei sich nach Schuld oder wollen die Diagnose einfach nicht wahrhaben.“ Ähnliche Verdrängungsmechanismen sind auch bei erwachsenen Krebspatienten zu beobachten. „Wo ein Zustand der Hoffnungslosigkeit entsteht, greifen die Menschen nach jedem Strohhalm“, weiß ein am Wiener AKH tätiger Psychiater um die Anfälligkeit solcher Patienten für alle Arten von Heilsversprechen.

Umso mehr, als auch die Schulmedizin im Kampf gegen den großen Killer bisher nur an Nebenfronten wirkliche Erfolge verzeichnet. Heilungschancen von 95 Prozent, wie sie im Fall Olivias auch international als gesichert gelten, sind trotz verbesserter Früherkennungsmöglichkeiten und eifrigen Einsatzes von Chemotherapie, Skalpell und radioaktiver Bestrahlung immer noch die Ausnahme. Trotz einer halben Billion US-Dollar, die in den vergangenen 20 Jahren weltweit in die Krebsforschung gepulvert wurden, bleiben die großen Killer-Krebse meist unbesiegt. Starb in den fünfziger Jahren noch einer von fünf Österreichern an den Zellwucherungen, so mußten im Vorjahr die Mediziner schon bei jedem vierten Verstorbenen als Todesursache „Bösartige Neubildungen“ eintragen. 20.000 Österreicher verlieren jährlich ihr Leben, weil sich ihre Körperzellen unkontrolliert vermehren.

Nicht einmal über die Ursachen konnten sich die Legionen an forschenden Wissenschaftern bisher Klarheit verschaffen: genetische Schäden oder die Vergiftung der Umwelt, persönlicher Lebensstil, Ernährung, psychische Faktoren – an Hypothesen besteht in der Expertenwelt kein Mangel.

Die auch für den Laien spürbare Unsicherheit läßt gerade Krebspatienten häufig nach Alternativen suchen. „Diese Frage kommt sehr häufig“, weiß Petra Weiland von der österreichischen Krebshilfe aus der Praxis. „Die Patienten fühlen sich oft von der Schulmedizin entmündigt und wollen selbst etwas zur Bekämpfung der Krankheit beitragen.“ Deutschen Untersuchungen zufolge wenden sich 50 bis 80 Prozent aller Krebspatienten zumindest einmal an alternative Heiler.

Als letzter Hoffnungsschimmer läßt sich so gut wie alles verkaufen. Neben den inzwischen etablierten Methoden wie Akupunktur oder Homöopathie treibt das Geschäft mit der Hoffnung die skurrilsten Blüten: Von Aloe bis zum „Vierwindtee“, von „Kurzwellentherapie der vegetativen Gehirnzellen“ bis zur Wärmetherapie, von diversen Diäten bis zur Zelltherapie mit Schaf-Föten reicht die Angebotspalette der Krebstherapeuten von eigenen Gnaden. Nicht weniger als 600 verschiedene Alternativ-Modelle, schätzt der Wiener Onkologe Werner Scheithauer, buhlen mittlerweile um die Patientengunst. „Die verzweifelten Krebspatienten sind bevorzugte Opfer der aggressiven Werbemethoden der selbsternannten Heiler“, weiß Psychologe Topf aus vielen Patientengesprächen. „Vor allem in ländlichen Gegenden, wo das ganze Dorf von einem Krebsfall weiß, rufen Kräuterweiblein, Pendler oder Handaufleger ungeniert bei den Patienten an, um ihre Dienste anzubieten.“

„Auf meinem Schreibtisch“, notierte auch Hans Peter Heinzl, nachdem 1992 bekannt wurde, daß er an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war, „stapelten sich die Briefe und Telegramme mit Vorschlägen. Petroleum soll ich einnehmen. Oder 42 Tage nur Rote-Rüben-Saft trinken. Ein Anrufer bietet an, mir die Hand aufzulegen. Kostenlos.“

Obwohl der Kabarettist weiter auf Chemotherapie vertraute, konnte auch er sich dem Einfluß der Wunderheilerzunft nicht vollständig entziehen. Der von ihm konsultierte Münchner Arzt Nikolaus Klehr gilt als eine der schillerndsten Figuren in der Wunderheilerbranche. 5000 Patienten will Klehr durch sein „biologisches High-Tech-Verfahren“ bisher schon gerettet haben. Seine Methode: Weiße Blutkörperchen werden in Zentrifugen und Blutschränken zu „Killerzellen“ umfunktioniert. Sie sollen Krebszellen demaskieren und so für die körpereigene Immunabwehr angreifbar machen.

Obwohl sich bei diversen Laboruntersuchungen nicht die geringste Spur der versprochenen krebsfeindlichen Stoffe finden ließ, erfreut sich Klehr weiter regen Zulaufs.

Daß Heinzl, dem die Ärzte damals „bestenfalls noch acht Monate gegeben haben“, auch drei Jahre nach der Diagnose noch lebt, mag im Einzelfall wie ein Wunder erscheinen. Aber, so der AKH-Onkologe Werner Scheithauer, „Spontanheilungen gibt es bei Krebspatienten zwar selten, aber immer wieder“.

Den Wunderheilern dienen solche Fälle – oft sogar mit Enthusiasmus als Werbeträger. Zum Beweis für die Stimmigkeit seiner Theorien führt Ryke Geerd Hamer etwa gerne acht Patienten an, deren Tumor auch ohne schulmedizinische Intervention verschwand.

Die steirische Ärztekammer freilich hat vergangene Woche der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt von neun Fällen berichtet, in denen Patienten, denen der „Neue Mediziner“ von einer Behandlung abgeraten hat, verstorben waren.

Auch der Chirurg Hans Jörg Böhmig vom Linzer Elisabethinen-Krankenhaus hat einen solchen Fall dokumentiert: 1992 kehrte ein 32jähriger Mann mit Mastdarmkrebs im Endstadium reuig ins Spital zurück, nachdem er Hamers Rat folgend monatelang jede Behandlung verweigert hatte. „Ihre Eiserne-Regel-Theorie-Therapie erscheint mir als sehr plausibel“, schrieb er vom Krankenbett an Hamer, „doch was nützt sie, wenn die Wirkung ausbleibt.“ Die Einsicht kam zu spät. Im September 1993 starb der Mann unter qualvollen Bedingungen. „Er war sozusagen bei lebendigem Leib verfault“, erinnert sich Böhmig.

Nicht weniger dramatisch endeten auch vier Fälle, in denen Hamer den Eltern krebskranker Kinder riet, die Behandlung im St. Anna Kinderspital abzubrechen und voll auf seine „Confliktolyse“ zu vertrauen. Die Kinder starben nach wenigen Monaten, obwohl die Schulmediziner ihnen Heilungschancen bis zu 70 Prozent eingeräumt hatten.

„Kein vernünftiger Schulmediziner wird komplementärmedizinische Maßnahmen völlig ablehnen“, will Krebsspezialist Scheithauer nicht alles Alternative in einen Topf geworfen wissen. „Als Begleitmaßnahme können einige Verfahren durchaus nützlich sein.“

Zu einem ähnlichen Schluß kommt auch der kommenden Herbst erscheinende Ratgeber „Bittere Naturmedizin“, in dem erstmals die wichtigsten Verfahren der Komplementärmedizin auf Basis des aktuellen Forschungsstandes systematisch evaluiert werden. Verfahren wie Akupressur, Shiatsu, Eismassagen, Elektro- oder Neuraltherapie, aber auch ätherische Öle zum Einreiben, so das Ergebnis, können etwa im Bereich der Schmerzbehandlung sinnvolle Ergänzungsarbeit leisten.

Als alleinige Therapie gegen Krebs, so der aktuelle Wissensstand, ist aber nach wie vor keine der vielen angepriesenen Methoden empfehlenswert. Selbst die Wirkung von Mistelinjektionen, eines der meistbeworbenen Alternativverfahren, ist allenfalls in der Lage, Begleiterscheinungen der belastenden Chemotherapie zu lindern. Freilich sind Hoffnungssuchende auch ohne wissenschaftliche Beweise für die Wirksamkeit nur allzuoft bereit, große finanzielle Opfer für dubiose Kräuter, Salben, Säfte, Tees oder Heilstrahlen zu erbringen. Maria K. litt fünf Jahre an ihrem Eierstockkrebs. Von der Schulmedizin aufgegeben, wandte sie sich 1991 an ihren Hausarzt im niederösterreichischen Moosbrunn. Seine Empfehlung, es mit „Ukrain“, einem simplen Schöllkrautpräparat, zu versuchen, weckte neue Hoffnungen. Monatelang spritzte ihr der Arzt täglich zweimal das Präparat. Als sie die Therapie nach einem halben Jahr abbrach, hatte Maria K. rund 200.000 Schilling bezahlt. Drei Monate später starb sie.

Während jene, die Rote-Rüben-Saft zur Krebsbehandlung empfehlen, wenigstens keinen direkten Schaden anrichten können, spielen andere Wunderheiler bewußt mit dem Leben ihrer Opfer. So wird die Tiroler Fleischersgattin Paula Ganner nicht müde, Petroleum als lebensrettendes Anti-Krebs-Elixier unters Volk zu bringen. Sie fand sogar eine Tiroler Firma, die ihr zum Patent angemeldetes Präparat unter dem Namen „Naphta B“ herstellt und vertreibt. Obwohl mittlerweile erwiesen ist, daß Petroleum nicht nur unwirksam gegen Tumore ist, sondern auch die Leber und das Nervensystem schädigt, kann die österreichische Krebshilfe das Mittel wegen laufender Nachfrage nicht vom Warnindex nehmen.

Am buntschillernden Wunderheilermarkt verlieren selbst Wohlmeinende des öfteren den Überblick. So forderte die Grüne Madeleine Petrovic noch im Juni in einer parlamentarischen Anfrage eine Überprüfung der Hamerschen Thesen, weil ihr „Überzeugende Angaben“ über umfassende Heilungserfolge vorlägen. „Man darf nicht bei jedem Anruf eine Anfrage stellen“, rät die grüne Gesundheitssprecherin Gabriele Moser inzwischen zu einer überlegteren Gesundheitspolitik. „Ich wäre da vorsichtiger gewesen.“ Um Patienten in Hinkunft leidvolle Irrwege zu ersparen, regt Moser für den Herbst die Erstellung eines Weißbuchs über den alternativen Medizinmarkt an. „Nur wenn es gelingt, das Absurde vom Sinnvollen zu trennen“, so Mosers Hoffnung, „können dramatische Fälle wie der der kleinen Olivia vermieden werden.“

Mitarbeit: Christian May, Malaga

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