UNIVERSITÄTSKLINIKUM – MEDIZINISCHE FAKULTÄT DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT ZU BERLIN

Kinderklinik
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin

Campus Virchow-Klinikum
Kliniken für Kinderheilkunde und Kinderchirurgie
Klinik für Pädiatrie m. Schw. Onkologie/Hämatologie
Hauspost: Mittelalle 8.04.3713

Klinikdirektor: Prof. Dr. med. Günter Henze

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31. August 1998

Fachärztliches Gutachten im Ermittlungsverfahren gegen Dr. med. Ryke Geerd Hamer wegen des Verdachts der Körperverletzung

Patientin
Kind Olivia Pilhar, geb. am 31.12.1988

Diagnose
Wilmstumor (Nephroblastom) ausgehend von der rechten Niere mit Lungen- und Lebermetastasen (Stadium 4)

 

Vorgeworfen wird dem Beschuldigten, durch eine nicht den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechende Behandlung nach dem 23.5.1995 die schulmedizinisch angezeigte Behandlung des Kindes Olivia Pilhar um 10-12 Wochen verzögert zu haben. In diesem Zeitraum soll eine massive Verschlechterung des Tumorleidens erfolgt sein mit der Folge, daß dadurch der Gesundheitszustand Olivia Pilhars gefährdet und die Heilungschancen verringert wurden und sie über Wochen chronische Schmerzen und auch psychische Qualen erleiden mußte.

Als von der Staatsanwaltschaft Köln beauftragtem Gutachter für das Fach Pädiatrie, speziell Pädiatrische Onkologie, stehen mir die gesamte Krankenakte, umfangreiche Aufzeichnungen über den Krankheitsverlauf auch vor dem Beginn der Behandlung, sonografisches, computer- und kernspintomografisches Bildmaterial sowie Unterlagen über die Tätigkeit und die Behandlungsmethoden des Beschuldigten einschließlich des Buches ‚Vermächtnis einer Neuen Medizin, Band I, Das ontogenetische System der Tumoren mit Krebs, Leukämie, Psychosen, Epilepsie‚ der Amici di Dirk Verlagsgesellschaft 1987 zur Verfügung.

Der Sachverhalt und der zeitliche Ablauf der Ereignisse lassen sich relativ kurz zusammenfassen:

Olivia Pilhar wird am 18.5.95, nachdem die Eltern mit ihr am 17.5.95 zunächst wegen seit mehreren Wochen bestehender Bauchschmerzen die Ambulanz aufgesucht hatten, in der Abteilung für Kinder- und Jugendheilkunde des Krankenhauses Wiener Neustadt aufgenommen. Da die klinische Untersuchung den Verdacht auf einen Bauchtumor ergibt, werden bildgebende Untersuchungen veranlaßt. Nach deren Ergebnis liegt bei Olivia ein Wilmstumor der rechten Niere vor. Noch am selben Tage erfolgt die Verlegung in das St. Anna Kinderspital, eine Kinderklinik, die auf die Behandlung von krebskranken Kindern spezialisiert ist.

Die Diagnose eines rechtsseitigen Nierentumors wird durch eine weitere Ultraschalluntersuchung am 19.5.1995 erhärtet; außerdem erfolgt an diesem Tag eine computertomographische Untersuchung der Lunge, die keinen Hinweis auf Absiedelungen (Metastasen) ergibt. Der aufgrund der CT anfänglich geäußerte Verdacht auf Metastasen in der Leber bestätigt sich bei der kernspintomografischen Untersuchung am 22.5.95 sowie bei nochmaliger Ultraschalluntersuchung nicht.

(Anmerkung: in dem Befund der kernspintomografischen Untersuchung ist von mehreren cystoiden, d.h. flüssigkeitsgefüllten, Arealen die Rede, nicht aber, wie vom Beschuldigten später immer wieder reklamiert und auch im Urteil des Landgerichts Wiener Neustadt (Blatt Nr. 1086) vermerkt von „Nierenzysten“ oder „Nierenzyste“).

Ohne daß es zunächst zu einem ausführlichen Arzt-/Elterngespräch kommt, verbringt die Patientin das Wochenende mit ihren Eltern im St. Anna Kinderspital. Dort haben die Eltern Kontakt zu anderen Eltern, und aufgrund der Gespräche mit ihnen entwickeln sich bei ihnen Abneigungen und Ängste gegenüber der Chemotherapie, weil sie Kinder erleben, die unter Nebenwirkungen der Chemotherapie leiden.

Ein ausführliches Diagnose-/Aufklärungsgespräch findet am Montag, dem 22.5.95 statt, und es wird den Eltern erklärt, daß Olivia an einem bösartigen Tumor der rechten Niere erkrankt sei. Deshalb müsse eine Therapie gemäß der Nephroblastom-Studie SIOP 93 durchgeführt werden. Zunächst sei eine Chemotherapie vorgesehen, später müsse dann eine Operation und danach nochmals eine Chemotherapie erfolgen. Die Heilungsaussichten seien mit dieser Therapie sehr gut.

Die Eltern können sich aufgrund der Erfahrungen vom Wochenende nicht dazu entschließen, einer Chemotherapie zuzustimmen. Auch die ihnen angebotene Alternative, die primäre Operation, mit der allerdings die Heilungsaussichten geringer veranschlagt werden, ist für sie nicht akzeptabel. Sie nehmen Olivia gegen ärztlichen Rat und gegen Unterschrift aus dem Krankenhaus mit nach Hause und wollen sich nach alternativen Behandlungsmethoden erkundigen.

Auf nicht sicher nachvollziehbaren Wegen gelangen sie an Dr. Hamer, den sie in den folgenden Tagen in Köln aufsuchen. Er diagnostiziert eine Nierenzyste und einen Leberkrebs, führt die Erkrankung auf einen Persönlichkeitskonflikt zurück und ist der Auffassung, daß lediglich der Konflikt gelöst werden müsse, wodurch sich dann das Krebsgeschehen von selbst zurückbilden würde. Die Nierenzyste bilde sich bereits wieder zurück; dieser Konflikt sei offenbar bereits abgeschlossen.

Für die Eltern des Kindes war die Argumentation von Herrn Hamer offenbar so überzeugend, daß sie nicht wie besprochen nach Ablauf der Bedenkzeit wieder im St. Anna Kinderspital erschienen, sondern trotz der Appelle des leitenden Arztes eine „schulmedizinische“ Behandlung ablehnten und Hilfe bei Alternativmedizinern suchten. Eine Kontrolluntersuchung durch einen Radiologen in Mödling ergab, daß die Raumforderung im Bauch des Kindes zugenommen hatte. Dennoch führte dieser Befund nicht zur Einsicht der Eltern, so daß ihnen schließlich aus Sorge um das Leben des schwerkranken Kindes am 23.6.1995 durch das Pflegschaftsgericht das Sorgerecht für Olivia entzogen wurde.

Um die Behandlung des Kindes dennoch zu verhindern, traten die Eltern mit Olivia die Flucht an, die sie bis nach Malaga in Spanien führte. Begleitet wurden sie von Herrn Hamer, der offenbar auch weiterhin ihr Berater war und dem sie ihr ganzes Vertrauen schenkten. Schließlich gelang es durch Intervention von mehreren Seiten, die Eltern dazu zu bewegen, mit Olivia nach Österreich zurückzukehren. Über den Gesundheitszustand des Kindes gibt es aus dieser Zeit nur verhältnismäßig wenige Angaben. Die Aktenvermerke über die wesentlichen Informationen und Handlungsweisen in der Zeit vom 19. Juli bis zum 24. Juli 1995, also den letzten Tagen in Malaga bis zur Ankunft in Wien (Seiten 660 bis 698) lassen erkennen, daß es Olivia zwar nicht gut gegangen ist, daß sie aber auch andererseits nicht akut lebensbedroht war. Der Leibesumfang hatte (auch auf den Pressefotos) erkennbar zugenommen; bei Lageveränderungen hatte Olivia Schmerzen, und die Bewegungsabläufe waren verzögert. Nach Auskunft der aus Wien hinzugezogenen Ärzte bestand aber während dieser Zeit kein Anlaß zur Durchführung intensivmedizinischer Maßnahmen, auch nicht während des schließlich am 24. Juli erfolgenden Rückflugs. Immer wieder wird darauf hingewiesen, daß Olivia sehr auf ihre Mutter fixiert ist; sie weint, wenn ihre Mutter sich von ihr entfernt, und dadurch ist eine realistische Einschätzung ihres Zustandes schwierig.

Nach der Rückkehr nach Österreich – Olivia wurde zunächst nach Tulln gebracht – wird ein Ärztekonsil einberufen. Erneute bildgebende Untersuchungen lassen erkennen, daß es inzwischen zum Auftreten von Lungen- und Lebermetastasen gekommen ist. Es liegt jetzt also ein Stadium 4 des Wilms‘ Tumors vor. Der Zustand des Kindes verschlechtert sich zusehends. Im Aufnahmebefund wird Olivia als kachektisch beschrieben. Sie ist sehr blaß (Hämoglobinwert lt. Krankenhaus Tulln SH 3, Blatt Nr. 4 6,8 g/dl bei 3,0 Mill. roten Blutkörperchen pro l Blut). Ihr Körpergewicht beträgt nur 27 kg, wobei man berücksichtigen muß, daß mindestens etwa 4 kg davon auf den inzwischen mehr als 4 Liter großen Tumor entfallen. Infolge dieses riesigen Tumors ist sie kurzatmig und hat deutlich immer wiederkehrende Schmerzen, so daß den Aufzeichnungen aus der Kinderklinik Tulln (SH 3, Blätter 8-19) zufolge regelmäßig Schmerzmittel verabreicht werden müssen. Um zu versuchen, das Leben des jetzt schwerstkranken Kindes noch zu retten, wird beschlossen, eine „Zwangsbehandlung“ in Wien durchzuführen, die wegen der Ressentiments gegen das St. Anna Kinderspital und die Kinderklinik Wiener Neustadt in der Universitäts-Kinderklinik erfolgen soll. Hier wird Olivia am 29. Juli 1995 stationär aufgenommen.

Eine Chemotherapie gemäß dem Nephroblastomprotokoll wird, um einem Tumorzerfallssyndrom vorzubeugen, mit reduzierter Medikamentendosis eingeleitet. Inzwischen hat sich eine Lungenentzündung eingestellt, so daß die Atmung des Kindes dadurch und auch durch die Kompression der Lunge durch den riesigen Tumor kritisch beeinträchtigt ist. Es wird daher beschlossen, zur rascheren Rückbildung des Tumors, weil die Chemotherapie einige Zeit bis zu ihrer Wirksamkeit benötigt, zusätzlich zur medikamentösen Behandlung eine Strahlentherapie durchzuführen. Wegen unzureichender Lungenfunktion (nicht ausreichende Sauerstoffaufnahme mit Sättigungswerten bis auf weniger als 80%, Akte des AKH Uni-Wien, Seite 163) erfolgt geplant (d.h. nicht unter Notfallsbedingungen) am 31. Juli 1995 eine Intubation mit künstlicher Beatmung auf der Intensivstation der Universitäts-Kinderklinik. Weiterhin muß Flüssigkeit aus dem Pleuraraum (Raum zwischen Lunge und Brustwand) abgeleitet werden, die sich als Folge der Lungenentzündung dort angesammelt und zusätzlich zu dem Tumor selbst, dessen Volumen bis auf über 6 Liter angewachsen ist, zu einer Einschränkung der Atmung geführt hat.

Mit dem Einsatz aller verfügbaren Maßnahmen einschließlich einer breiten antimikrobiellen Therapie, der Gabe von hämatopoetischen Wachstumsfaktoren (Medikamente, die die Blutbildung anregen) und intensivmedizinischer Behandlung gelingt es, das Mädchen über diese kritische Situation hinweg zu bringen. Die Tumorbehandlung zeigt ihre Wirkung: Der Tumor spricht so ausgezeichnet auf die Therapie an, daß das Tumorvolumen bereits am 8.9.1995 auf etwa 1/10 seines Ausgangswertes (auf ca. 460 ml) abgenommen hat und auch die Lungen- und Lebermetastasen sich eindrucksvoll zurückgebildet haben (Akte des AKH Uni-Wien, Seite 167). Infolge der Dekompression der Lunge kann die künstliche Beatmung nach 14 Tagen beendet werden. Die weitere Behandlung verläuft plangemäß ohne ungewöhnliche Komplikationen, und Olivia kann ab der 5. Behandlungswoche sogar mit dem Schulunterricht beginnen. Die tumortragende Niere wird am 18.9.1995 problemlos operativ entfernt.

Postoperativ wird die Chemotherapie fortgesetzt und planmäßig beendet. Nachfolgende Kontrolluntersuchungen haben bislang keinen Hinweis für ein Tumorrezidiv ergeben. In Anbetracht der zum Zeitpunkt des Therapiebeginns bestehenden Tumorausbreitung ist dies ein sehr günstiges Zeichen. Das Auftreten eines Rezidivs ist zwar immer noch möglich aber eher unwahrscheinlich.

Dies wäre noch einmal kurz zusammengefaßt der Krankheitsverlauf, wie er sich aus dem mir überlassenen Aktenmaterial darstellt. Ich komme nunmehr zur Beantwortung der Fragen, zu denen meine Stellungnahme erbeten wird:

1.) Hat der Beschuldigte durch die „Behandlung“ des Kindes Olivia Pilhar die Patientin an der Gesundheit geschädigt?

Zunächst muß man die Frage stellen, wie der Begriff Behandlung zu verstehen ist. Eine medizinische Behandlung im strengen Sinne, d.h. eine Behandlung mit Medikamenten ist ja von Herrn Hamer nicht vorgenommen worden. Er hat sich aber über die Krankheit Olivia Pilhars informiert und auch die Eltern des Kindes beraten. Dies erfüllt für mein Empfinden den Tatbestand der Behandlung. Es ist ihm, der in dem Ruf steht, außerordentlich geschickt mit Menschen umgehen zu können, gelungen, die möglicherweise latente Phobie der Eltern Olivias (von der Mutter wurde gesagt, sie vermeide wenn möglich Medikamente und habe einen Hang zur Naturheilkunde) in eine geradezu panische Angst zu steigern, so daß diese seinem „Rat“ folgend sogar bereit waren, den Tod ihres eigenen Kindes zu akzeptieren und es den Ideen des Herrn Hamer zu opfern. In den oben bereits erwähnten Aktenvermerken über die wesentlichen Informationen und Handlungsweisen (in Malaga) wird beschrieben, daß Herr Hamer stets in engem Kontakt mit den Eltern und die Abhängigkeit der Eltern von Herrn Hamer sehr groß sei; er mische sich ständig ein; er halte sich ständig bei den Eltern und Olivia auf; er sei die einzige medizinische Bezugsperson; er übe Druck auf die Eltern aus („er stülpt sich richtiggehend über die Eltern„). Da Herr Hamer wußte, daß den Eltern das Sorgerecht für Olivia entzogen worden war, hätte er als verantwortungsbewußter „Berater“ nicht zuletzt im Interesse des schwerstkranken Kindes den Eltern raten müssen, Olivia nach Österreich zur Behandlung zurückbringen zu lassen. Er bestärkt hingegen die Eltern in ihrer von ihm selbst provozierten und geschürten ablehnenden Haltung gegenüber allen ernst- und wohlmeinenden Medizinern.

Was war das Ergebnis? Der Gesundheitszustand des Kindes hat sich während der Zeit der „Flucht“ der Eltern für alle (außer Herrn Hamer) erkennbar erheblich verschlechtert. Nachweislich ist aus dem zum Zeitpunkt der ersten Diagnosestellung regional begrenzten Tumor bei der Rückkehr nach Österreich eine metastasierter Tumor geworden. Die Bilddokumente und auch die Befunde der österreichischen Untersucher belegen dies zweifelsfrei. Der Zustand des Kindes ist bedenklich schlecht. Olivia hat an Gewicht abgenommen; gegenüber dem im St. Anna Kinderspital dokumentierten Körpergewicht (ca. 25 kg) wiegt sie bei der Rückkehr nach Österreich zwar 27 kg; hiervon muß man aber das Tumorgewicht (ca. 4 kg) abziehen, so daß sie innerhalb der Zeit zwischen Diagnose und Therapiebeginn mindestens etwa 2 kg an Gewicht abgenommen hat.

Ihr Blutbild ist schlecht; Olivia hat eine schwere Anämie: Der Hämoglobinwert (roter Blutfarbstoff, normal in diesem Alter etwa 13 g/dl Blut) beträgt 6,8 g/dl; die Zahl der roten Blutkörperchen liegt bei 3,0 Mio/l; daraus ergibt sich ein MCH (mittleres corpuskuläres Hämoglobin) von 22 pg; zusammen mit dem auf das zwei- bis dreifache erhöhte Ferritinwert von 828,2 g/l (SH 3, Blatt Nr. 23) ist diese Anämie eindeutig als Tumoranämie zu erklären. Im St. Anna Kinderspital lag am 19.5.1995 (SH 1, Blatt Nr. 44) die Hämoglobinkonzentration noch bei 11,6 g/dl und das MCH bei 26,6 pg (beides noch im Bereich der Altersnorm). Diese Werte sind abgesehen von der eindeutig belegten Größenzunahme des Tumors selbst indirekte aber zweifelsfreie Belege für das Fortschreiten der Tumorerkrankung.

Von Herrn Hamer wird die Situation bezüglich der Blutbildung allerdings ganz anders gesehen (Band II, Blatt 405): „Dabei hatte Olivia am 26.7.95 mit 2,9 Mio. Ery’s bei 6,5 HB eine sehr starke Hämatopoese.“ Eine solche Äußerung würde man eher einem medizinischen Laien zuschreiben als jemandem, der über einen medizinischen Doktortitel verfügt. Ein Hämoglobinwert (HB) von 6,5 bei 2,9 Mio. Erythrozyten ist eindeutig pathologisch und kann nicht als starke Hämatopoese interpretiert werden.

Die Frage, ob Herr Hamer durch die „Behandlung“ des Kindes Olivia Pilhar die Patientin an der Gesundheit geschädigt hat, ist zweifellos mit ja zu beantworten, zunächst einmal, weil sich der Gesundheitszustand des Kindes dadurch, daß eine Behandlung in einem frühen Krankheitsstadium von Herrn Hamer verhindert wurde, erheblich verschlechtert hat und dadurch die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung wesentlich ungünstiger geworden ist, worauf im Folgenden noch näher eingegangen wird.

2.) Hat die auch vom Beschuldigten zu vertretende 10-12 wöchige Verzögerung der Aufnahme schulmedizinischer Behandlung eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Kindes herbeigeführt und sind dadurch die Heilungschancen verringert und dem Kind vermeidbare psychische und physische Schmerzen zugefügt worden?

Wäre sofort nach der Diagnose eine Behandlung eingeleitet worden, so wäre dem Mädchen zunächst einmal das massive Tumorwachstum erspart geblieben. Selbst wenn der Tumor nicht gut auf die Therapie angesprochen hätte, so hätte man das früh bemerkt und unter diesen Umständen keineswegs mit einer Operation, die ja bei dem geringen Tumorvolumen technisch möglich gewesen wäre, gewartet bis der Tumor ein Volumen von über 4 Litern erreicht gehabt hätte. Bei gutem Ansprechen des Tumors auf die Chemotherapie (wie es ja dann tatsächlich vorlag) hätte die gesamte Behandlung weniger intensiv ausgelegt werden können, d.h. es wäre keine Bestrahlung zur Anwendung gekommen und es hätte kein Anthrazyklin verabreicht werden müssen.

Anthrazykline sind Zytostatika, die als akute Nebenwirkung eine ausgeprägte Knochenmark- und Schleimhauttoxizität haben; sie können auch bereits während der Therapie Nebenwirkungen am Herzmuskel verursachen; häufiger ist diese kadiotoxische Wirkung […] erst nach Jahren bemerkbar. Es hat den Anschein, als ob auch Herr Hamer etwas über die mögliche Kardiotoxizität der Anthrazykline, oder auch generell der Chemotherapie, gehört hat. Er spricht in seinen Briefen wiederholt über eine verminderte Herzleistung bei Olivia Pilhar. Infolge der „Rattengiftpseudotherapie“ sei insbesondere die linke Herzkammer Olivias so geschädigt, daß sie nur noch 33% ihrer üblichen Kapazität an Leistung aufbringe (Band IV, Blatt 875). In einem Befund der Herzschalluntersuchung in der Universitäts-Kinderklinik Wien ist von einer Kontraktilität (oder Verkürzungsfraktion) von 33% die Rede. Eine Kontraktilität von 33% ist aber normal und hat mit einer Einschränkung der Herzleistung überhaupt nichts zu tun. Ähnlich wie bereits am Beispiel des Blutbildes aufgezeigt, offenbart sich in solchen Interpretationen des Beschuldigten die Unkenntnis über medizinische Sachverhalte und Zusammenhänge. Tatsächlich hätte gerade er aber dazu beitragen können, die Verabreichung potentiell kardiotoxischer Medikamente zu vermeiden.

In der Pädiatrischen Onkologie versuchen wir, wenn möglich eine Strahlentherapie zu umgehen. Die Bestrahlung ist eine Behandlungsmaßnahme, die nach gegenwärtiger Kenntnis wesentlich mehr Spätfolgen nach sich zieht als die Chemotherapie. Insbesondere ist sie für Zweitmalignome verantwortlich, die nach einer alleinigen Chemotherapie relativ selten sind. Den mir zur Verfügung stehenden Unterlagen zufolge haben es sich die behandelnden Ärzte Olivias mit der Indikation zur Strahlentherapie nicht leicht gemacht. Sie haben sich schließlich dazu entschlossen, weil sie zu der Überzeugung gekommen waren, dem Tumorwachstum ohne Bestrahlung nicht rasch genug Einhalt gebieten zu können. Infolge der Tumorgröße mußte natürlich auch das Strahlenfeld groß gewählt werden, was unvermeidlich dazu geführt hat, daß gesunde Strukturen mitbestrahlt werden mußten. Es besteht für Olivia zumindest ein erhöhtes Risiko, später einmal – mitverursacht durch die Strahlentherapie – an einem zweiten Tumor zu erkranken. Das hätte vermieden werden können.

Infolge der riesigen Tumorgröße wurde die rechte Lunge komprimiert, und man muß davon ausgehen, daß sich als Folge der Minderbelüftung und der verminderten Beweglichkeit in dieser Lunge die Lungenentzündung entwickelt hat, die zu einer beatmungspflichtigen Ateminsuffizienz geführt hat. Olivia mußte deswegen für 14 Tage intubiert werden. Dieser Umstand wäre natürlich bei rechtzeitigem Behandlungsbeginn niemals eingetreten.

Ich komme zunächst zu dem Ergebnis, daß die von Herrn Hamer wesentlich mitzuverantwortende Verzögerung des Beginns einer schulmedizinischen Behandlung den Gesundheitszustand des Kindes erheblich verschlechtert hat.

Aus den Gerichtsakten wird deutlich, daß mit dem Begriff „Heilungschancen“ recht sorglos umgegangen wird. Heilungschancen kann man nur statistisch angeben, und es gibt keine Erkrankung, bei der man von einer 100%igen Heilungschance ausgehen kann. In der Situation Olivias waren die erstuntersuchenden Ärzte sicher berechtigt, prinzipiell von einer günstigen Prognose auszugehen. Es lag ein Wilms‘ Tumor in einem offenbar niedrigem Stadium vor. Das bedeutet, daß bei dieser Konstellation mehr als 90% der betroffenen Kinder geheilt werden. Hierüber gibt es – auch wenn Herr Hamer dies bezweifelt – umfangreiche Statistiken. In Deutschland z.B. werden seit 1980 alle Kinder mit Krebserkrankungen nach Mainz an das Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation gemeldet. Jährlich wird ein Bericht herausgegeben, der auch die Prognosen bei den einzelnen Krankheitsentitäten beinhaltet. Die Zahlen sind also verläßlich, und darüber hinaus kennt natürlich jeder kinderonkologisch tätige Arzt selbst Patienten, die Langzeitüberlebende nach einem Wilms‘ Tumor sind.

Vergleichbare Daten gibt es auch aus dem Ausland. In den USA werden Kinder mit Wilmstumoren nach Protokollen der National Wilms Tumor Study Group (NWTS) behandelt; auch diese Protokolle beinhalten selbstverständlich eine dem Protokoll der SIOP ähnliche Chemotherapie, und die Behandlungsergebnisse sind ebenso günstig.

Die in den schriftlichen Äußerungen von Herrn Hamer immer wieder aufgestellte Behauptung, daß 95% aller Patienten „Opfer der Chemo“ werden, ist daher völlig absurd und läßt sich sowohl anhand der Zahlen als auch in Gestalt von hunderten lebender Patienten ohne Mühe widerlegen. Diese Behauptung von Herrn Hamer spricht erneut für seine durchaus mangelnde Sachkenntnis.

Grundsätzlich – also auch für den Wilmstumor – gilt, daß sich die Prognose mit steigendem Tumorausbreitungsstadium verringert. Der Wilmstumor unterscheidet sich insofern von anderen Tumoren, als selbst beim Vorliegen von Metastasen die Heilungsaussichten noch deutlich über 50% liegen, also immer noch bedingt günstig sind. Aber auch diese Zahl ist eine statistische Größe und sagt nichts über den einzelnen Patienten aus: Bei einem individuellen Patienten gibt es immer nur zwei Möglichkeiten – entweder er wird geheilt oder nicht. Es ist daher wenig sinnvoll, sich an solchen Prozentzahlen zu stark festzuhalten, obwohl vielleicht verständlicherweise Eltern immer solche Zahlen genannt haben wollen. Statistisch ist durch die Verzögerung der Therapie bei Olivia die Heilungschance geringer geworden, weil eben Kinder mit einem Wilmstumor Stadium 4 nur eine Heilungschance von etwa 60-70% haben, während sie beim Stadium 1 über 90% beträgt. Neben dem Stadium spielen aber andere Faktoren eine Rolle, die zum Zeitpunkt der Diagnose noch gar nicht bekannt sind, nämlich der histologische Subtyp des Tumors, der erst nach der Operation ermittelbar ist, und das Ansprechen auf die Therapie, das in den ersten Wochen nach dem Beginn der Behandlung erkennbar wird. Bei Olivia liegt eine „günstige Histologie“ vor und zudem hat der Tumor bei ihr ganz ausgezeichnet auf die Behandlung angesprochen. Die Tatsache, daß es bisher zu keinem Wiederauftreten des Tumors gekommen ist, spricht sehr dafür, daß sie zu den 60-70% Kindern gehören wird, die trotz des Vorliegens eines Stadium 4 gesund werden.

Zu der statistischen Minderung infolge des höheren Stadiums kommt bei Olivia die Tatsache, daß die riesigen Ausmaße des Tumors ohne die hoch kompetente Betreuung leicht dazu hätte führen können, daß das Mädchen an den Folgen der tumorbedingten Raumforderung verstorben wäre.

Daher ist die Frage, ob die Therapieverzögerung zu einer Minderung der Heilungschancen geführt hat mit einem klaren Ja zu beantworten.

Den mir vorliegenden Unterlagen ist eindeutig zu entnehmen, daß Olivia Pilhar unter heftigen körperlichen Schmerzen glitten haben muß. Der Tumor muß zeitweilig ein Gewicht von mindestens 4 kg, möglicherweise sogar über 6 kg, gehabt haben. Sie selbst wog nur etwa 25 kg, und man möge ermessen, welche schmerzhaften Folgen ein so riesiger Tumor für ein so kleinen Mädchen haben muß (eine schwangere erwachsene Frau mit einem Gewicht von ca. 50-60 kg nimmt vielleicht etwa so viel an Gewicht zu). Darüber hinaus sind auch zahlreiche medizinische Prozeduren schmerzhaft, und bei Olivia sind zweifellos infolge der fortgeschrittenen Tumorkrankheit mehr solcher Prozeduren erforderliche geworden, als es bei rechtzeitiger Therapie der Fall gewesen wäre.

Was die psychischen Schmerzen betrifft, so sind diese weit schwieriger abzuschätzen. Aber die Schilderung der Ereignisse läßt kaum Zweifel daran zu, daß insbesondere die ständige Anwesenheit von Vertretern der Medien dazu beigetragen haben müssen, daß das Mädchen psychischen Spannungen ausgesetzt war.

Die ständig wechselnden Einflüsse auf die Eltern können an Olivia nicht ohne Folgen vorüber gegangen sein. Bei der Schilderung der Ereignisse kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es hier überhaupt nicht um das Kind ging. Es hatten vielmehr verschiedene Menschen, die beteiligt waren, ganz unterschiedliche, eigene Interessen. Für mein Empfinden war es das Interesse von Herrn Hamer, an Olivia seine Theorie der „Neuen Medizin“ zu beweisen und sich auf diese Weise zu rehabilitieren. Unklar bleibt für mich, weshalb die Eltern Olivias trotz der sichtlichen Verschlechterung ihres Befindens nur Herrn Hamer vertrauten, nicht aber anderen Menschen, die es offenbar gut mit ihnen meinten und die trotz ihrer Halsstarrigkeit nicht nachließen, ihnen einen Weg zur Umkehr zu öffnen (ich meine hier besonders die ausgesprochen offenen und versöhnliche Briefe von Herrn Jürgenssen, in denen er mehrfach versucht hat, die Eltern zu einer Korrektur ihrer Sichtweise zu bewegen). Die Vertreter der Medien hatten verständlicherweise Interesse an der „Story„, und es ist eigentlich beschämend, daß einige von ihnen überhaupt ernsthaft die Thesen von Herrn Hamer diskutierten und ihm auf diese Weise ein Forum gaben. Angesichts eines todkranken Kindes hätte man sich eine eindeutige Parteinahme für das Kind gewünscht.

Nachdem Olivia dann wieder in Wien war und die Behandlung eingesetzt hatte, muß sie während der Intensivtherapie am Respirator, während der sie ja nicht in Narkose sondern nur sediert war und auch reagieren konnte, Ängste durchlitten haben, die man ebenfalls durchaus als psychische Schmerzen bezeichnen kann.

Meiner Erfahrung nach benötigen Kinder in so schwierigen Phasen des Lebens die uneingeschränkte und vorbehaltlose Unterstützung ihrer Eltern. Diese Voraussetzung kann infolge der von innerlicher Ablehnung gegen die schulmedizinische Maßnahmen geprägte Haltung der Eltern nicht bestanden haben, wodurch für Olivia das Überstehen der Therapie gewiß mit Konflikten behaftet und dadurch schwieriger geworden ist, auch wenn sie dies vielleicht nie selbst artikuliert hat.

Überhaupt nicht abschätzen läßt sich zum jetzigen Zeitpunkt, wie sich das Kind später einmal psychisch mit den Geschehnissen und dem Verhalten einer durch Herrn Hamer irregeleiteten Eltern auseinandersetzen wird. Wird Olivia bewußt werden, daß ihre Eltern dazu bereit waren, ihr Leben den absurden Lehren eines Herrn Hamer zu opfern? Wenn ja, wie wird sie damit umgehen? Wird sie ihren Eltern Verständnis entgegen bringen können? Die Eltern sind ja offenbar, obwohl sie den Erfolg der schulmedizinischen Maßnahmen an ihrem eigenen Kind sehen, immer noch dieser Ansicht, daß Herrn Hamer als einziger Mensch die Situation bei ihrer Tochter richtig eingeschätzt hat. Diese Dinge können nicht ohne Folgen auf das Seelenleben eines Kindes bleiben und hinterlassen mit Sicherheit bleibende Spuren.

Es besteht daher für mich kein Zweifel daran, daß dem Mädchen durch die nicht rechtzeitig einsetzende Therapie sowohl physische als auch psychische Schmerzen zugefügt worden sind, die vermeidbar gewesen wären.

3.) Zur Frage Schulmedizin und „Neue Medizin

Sicher kann man an einer Reihe von Vorgehensweisen der Schulmedizin Kritik üben. Wie in anderen Wissenschaften gibt es auch in der Schulmedizin Irrwege. Wie andere Menschen sind auch Ärzte nicht unfehlbar, und es gibt unter ihnen einfühlsame und weniger einfühlsame. Ohne Zweifel ist es enttäuschend, daß insbesondere Krebskrankheiten bei Erwachsenen immer noch schlecht behandelbar sind. Die Schulmedizin aber generell zu verteufeln, wie es die von Herrn Hamer vertretene Richtung der „Neuen Medizin“ tut, ist aber deshalb nicht gerechtfertigt.

Die „Neue Medizin“ gründet auf Träume von Herrn Hamer, in denen er mit seinem verstorbenen Sohn gesprochen hat. Sie verleugnet ganz wesentlich wissenschaftliche Erkenntnisse. Sie negiert beweisbare Grundsätze und auch Ergebnisse der naturwissenschaftlich orientierten Medizin. In seinem Buch stellt Herr Hamer Thesen auf, die schlichtweg unhaltbar sind. So behauptet er z.B. auf S. 32 im Kapitel über Krebs und Embryologie, das Gehirn könne keine Hirnzelltumoren machen. Die Neuropathologie hat ohne jeden Zweifle bewiesen, daß es Hirnzelltumoren gibt. Auf S. 33 bezeichnet Herr Hamer die Leukämie als Heilungsphase nach einem Knochenbruch. Wie paßt in dieses Konzept die Tatsache, daß es z.B. bereits bei neugeborenen Kindern, die nie zuvor einen Knochenbruch erlitten haben, Leukämie gibt. Auf S. 356 behauptet er, Pathologen könnten nicht zwischen einem Osteosarkom (bösartiger Knochentumor) und Kallusbildung (Heilungsgewebe nach einem Knochenbruch) unterscheiden. Ich weiß nicht, welche Pathologen Herr Hamer dazu befragt hat, aber ich kennen nur Pathologen, die sehr genau zwischen Kallus und Osteosarkomgewebe unterscheiden können. Die Ausführungen über die Therapie der Leukämie (S. 398 ff.) lassen zwar erkennen, daß Herr Hamer etwas über die normale Bildung von Blutzellen gehört oder gelesen hat; daß Leukämie aber klonale Erkrankungen sind, die keineswegs mehr den Gesetzmäßigkeiten der normalen Blutbildung unterliegen, ist Herrn Hamer ganz offensichtlich nicht bekannt.

Die Auslassungen über Magengeschwüre ( S. 54) sind unhaltbar: wir wissen heute definitiv, daß Magengeschwüre durch Infektionen mit dem Bakterium Helicobacter verursacht sind und daß eine antibiotische Behandlung gegen diesen Erreger zur Heilung der Magengeschwüre führt. Angeblich gebe es Carcinoide nur im Bereich des Dünndarms und nicht in tiefer gelegenen Darmabschnitten (S. 55); seit langem sind Carcinoide der Appendix, also des Wurmfortsatzes, des sogenannten Blinddarms, bestens bekannt. Es ist absolut unmöglich, auf alle absurden Behauptungen und Krankheitstheorien einzugehen, die Herr Hamer in seinem Buch aufstellt. Ich möchte mich daher auf diese Beispiele beschränken.

Für den medizinischen Laien, der mit der Terminologie nicht vertraut ist, kann sich beim Lesen durchaus der Eindruck ergeben, es handele sich um wissenschaftlich begründbare Zusammenhänge. Für den Fachmann hingegen sind die dargestellten Zusammenhänge teils naiv, teils mystisch und entbehren in jeder Hinsicht der Logik und Nachvollziehbarkeit. Das ist insbesondere auch bei den Kasuistiken (z.B. S. 57-62) der Fall: stets handelt es sich hier um subjektive Interpredationen von Herrn Hamer an einem speziell gelagerten Fall. Nie gibt es eine Bemerkung über Kontrollen. Wie viele Menschen mögen in einer ähnlichen, vergleichbaren Situation gewesen sein, ohne eine entsprechende Krankheit entwickelt zu haben? Die von Herrn Hamer geschilderte Konfliktsituation sind ja durchaus nicht selten, und deshalb lassen sich für den medizinischen Laien scheinbar schlüssig Zusammenhänge zwischen diesen Konfliktsituationen und dem Krankheitsprozeß konstruieren. Herr Hamer, dem es an Intelligenz nicht mangelt, suggeriert mit seinen Konstruktionen, verbrämt mit z.T. medizinischen Termini, z.T. aber auch mit eigenen Wortschöpfungen, den Kranken, er wisse über die Zusammenhänge zwischen ihren Konflikten mit ihren Krankheiten sehr genau Bescheid und sie könnten allein durch den Glauben an seine Theorie gesund werden.

Wer wollte ernsthaft bestreiten, daß bösartige Tumoren Tochtergeschwülste (Metastasen) ausbilden? Sie sind doch eindeutig und zweifelsfrei z.B. mit Hilfe von immunhistochemischen Untersuchungen und heute darüber hinaus auch mit molekulargenetischen Methoden als vom Primärtumor abstammend identifizierbar. Außerdem kann man sogar den Prozeß der Metastasierung durch histologische Untersuchungen (Einbruch von Tumorzellen in Blut- oder Lymphgefäße, Tumorangiogenese) bildlich beweisen.

Bei Olivia ein Leberkarzinom zu diagnostizieren ist angesichts der Tatsache, daß nachweislich ein Wilmstumor bereits bekannt war, schlicht absurd. Leberkarzinome sind bei Kindern außerordentlich selten, und es gibt biochemische Marker, an denen man sie erkennen kann. Von solchen Möglichkeiten macht die „Neue Medizin“ aber gar keinen Gebrauch. Sie orientiert sich am Augenschein. Das geht so weit, daß Nachtschweiß gleichbedeutend mit Tuberkulose ist und eine bräunliche Verfärbung der Haut gleichbedeutend mit einem Morbus Addison. Es werden Diagnosen konstruiert, wie z.B. ein „Sammelrohrkarzinom„, die es überhaupt nicht gibt und die auch durch nichts bewiesen sind als durch die Vorstellung von Herrn Hamer.

Wer könnte allein aus bildgebenden Untersuchungen, insbesondere anhand des immer wieder beschworenen Computertomogramms des Gehirns, Art- oder Organdiagnosen herleiten, und das mit einer Sicherheit und einem Unfehlbarkeitsanspruch wie es Herr Hamer tut? Herr Hamer hat für alles einen Namen und eine Erklärung. Er ist aber vermutlich auch der einzige Mensch, der diese Art der Medizin beherrscht. Für schulmedizinisch ausgebildete Menschen ist diese Art des Denkens nicht nachvollziehbar. Sie kann es auch nicht sein, denn würde man versuchen so zu denken, müßte man alles vergessen, was man in der naturwissenschaftlich orientierten Medizin als richtig zu erkennen gelernt hat.

Herr Hamer behauptet, seine „Neue Medizin“ sei naturwissenschaftlich begründet, bleibt aber den Beweis für diese Behauptung schuldig. Sein von ihm selbst konstruiertes System ist in sich absolut schlüssig. Einen Irrtum gibt es nicht. Die „Neue Medizin“ impliziert Unfehlbarkeit. Wenn sie nicht zum Erfolg führt, dann ist der Patient „abgefallen“ (z.B. Schmerzen werden nicht ertragen; man nimmt Schmerzmittel; man stirbt, weil man den Schmerz nicht ertragen hat) oder „man kann ja schließlich nicht erwarten, daß Herr Hamer jeden Konflikt erfolgreich zu lösen imstande ist„. Wenn irgend etwas nicht paßt – wie z.B. die Lebermetastasen bei Olivia – erfindet Herr Hamer sofort eine neue Diagnose, nämlich ein Leberkarzinom. Die Behauptung, ein namhafter Urologe würde Wilmstumoren nicht mehr operieren, ist völlig unhaltbar: Dieser Urologe operiert manche Nierenzysten nicht, aber da für Herrn Hamer gedanklich in dem Gebäude seiner „Neuen Medizin“ Nierenzysten und Wilmstumor gleichgesetzt werden, wird dann aus der Nicht-Operation von Nierenzysten die Nicht-Operation eines Wilmstumors.

Bei der Begründung von Behauptungen geht er so weit, daß er Zahlen schlicht ummünzt, wie z.B. die Todesraten nach Chemotherapie, die aus der sicher sehr interessanten Arbeit von Herrn Abel (Band II und III) stammen: die über 90% der Patienten sterben nach Herrn Abel aber nicht an der Chemotherapie, sondern sie sterben an ihrer Krebskrankheit; und dabei handelt es sich um epitheliale Krebse, also keineswegs um Krebskrankheiten, wie sie für das Kindesalter typisch sind; aber weil die Zahlen ins Konzept passen, werden sie im Zusammenhang mit Olivia genannt und den Eltern gegenüber, die natürlich keine Chance haben sie zu überprüfen, dazu verwendet, ihnen Angst vor der Chemotherapie zu machen und das Leben ihres Kindes aufs Spiel zu setzen. Die Behauptung von Herrn Hamer, kein Arzt würde bei seinem eigenen Kind eine Chemotherapie durchführen lassen, ist ebensowenig haltbar wie seine anderen Behauptungen. Ich selbst kenne zahlreiche Ärzte, deren Kinder an Krebs erkrankt waren und in völligem Einvernehmen mit ihren Eltern erfolgreich behandelt worden sind.

Die Systematik der Krebserkrankungen (S. 64 ff.) ist geradezu abenteuerlich. Es ist sicher möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, daß Konfliktsituationen an der Entstehung von Krebserkrankungen beteiligt sein können, aber die naive Herleitung aller möglichen und auch von Herrn Hamer neu erfundenen Krebs-Diagnosen aus Konfliktsituationen ist für naturwissenschaftlich ausgebildete Menschen einfach absurd. Die „Conflictolyse“ (S. 38) kann aufgrund der Erfahrung an Tausenden von Menschen als alleinige Therapie keineswegs ausreichend sein. Es steht allerdings auch aus der Sicht der Schulmedizin außer Frage, daß psychische Faktoren eine Rolle bei der Auseinandersetzung mit einer (Krebs-) Krankheit spielen. In der Pädiatrischen Onkologie ist die psychosoziale Betreuung von Kindern und ihrer Eltern deshalb heute in allen größeren Behandlungseinrichtungen integraler Bestandteil der Therapie.

Die „Neue Medizin“ ist eine Sammlung von absurden Theorien, die keineswegs bewiesen werden und auch nicht beweisbar sind, und schon deshalb kann sie nicht naturwissenschaftlich sein, weil naturwissenschaftlich eben bedeutet, daß etwas auch beweisbar und mit den bisher erworbenen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen sein muß.

Im Fall von Olivia Pilhar hätte die „Neue Medizin“ fast dazu geführt, daß das Kind ihr Opfer geworden wäre.

4.) Zur Frage des klinischen Todes von Olivia Pilhar.

Nach den von mir eingehend studierten Unterlagen entbehrt die Äußerung von Herrn Hamer, Olivia sei eine Stunde nach Beginn der Chemo-Infusion klinisch tot gewesen, sie sei deshalb reanimiert, ihr dabei mindestens zehn Rippen gebrochen und ein Pneumothorax verursacht worden, jeder Grundlage. Aus den Protokollen geht eindeutig hervor, daß die Entscheidung zur Intubation nicht unter Notfallbedingungen gefallen ist. Sie wurde sorgfältig von den behandelnden Ärzten abgewogen, und die Intubation erfolgte wegen des sich verschlechternden Sauerstoffaustauschs trotz der Gabe von Sauerstoff in die Atemluft. Es ist in allen Akten nie von einer Reanimation die Rede. Auch die Eltern äußern nie etwas über eine Reanimationssituation und dabei angeblich abgebrochene Zähne. Eine Reihe von Röntgenaufnahmen des Thorax oder der herznahen Blutgefäße (Beweismittel I Blätter 464-471) ist von unterschiedlichen Ärzten befundet: es findet sich in keinem Befund die Angabe über einen Pneumothorax oder über Rippenserienfrakturen. Zur Ableitung des im Rahmen der Pneumonie entstandenen Pleuraergusses wurde allerdings, wie bereits oben erwähnt, eine Pleurasaugdrainage gelegt.

Zusammenfassend ergibt sich nach der Aktenlage kein Hinweis für die Behauptung des Beschuldigten, Olivia sei klinisch tot gewesen, reanimiert worden und habe dabei einen Pneumothorax und Rippenserienfrakturen erlitten.

Abschließend möchte sich der Gutachter nicht versagen, die folgenden Gedanken zu äußern: Nach gründlicher Lektüre der Akten ist bei mir der Eindruck entstanden, daß die Motivation für die Handlungsweisen des Herrn Hamer weder in der Gewinnsucht noch niederen Beweggründen zu suchen ist. Als medizinisch ausgebildeter Mensch stellt sich mir vielmehr die Frage nach der Schuld- und Einsichtfähigkeit von Herrn Hamer. Am Beispiel von Olivia Pilhar wird in erschreckender Weise deutlich, wie gefährlich seine Tätigkeit ist. Nach meiner Ansicht sollte man daher alles unternehmen, um kranke Menschen davor zu schützen, Opfer seiner Irrlehren zu werden.

Univ.-Prof. Dr. med. Günter Henze

Berlin, den 31. August 1998

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