Wieder einmal muß sich die Justiz mit dem umstrittenen „Krebsheiler“ Ryke Geerd Hamer befassen, der nicht mehr als Arzt oder Heilpraktiker tätig sein darf. Trotzdem vertrauen ihm seine Anhänger blind.

Von Gisela Friedrichsen

„Ich habe Angst um diesen Mann, Herr Vorsitzender, jawohl Angst! Ich hatte eine Vorahnung, was in diesem Gerichtssaal passieren würde. Dabei wollen Hunderte, Tausende, jawohl Tausende, von diesem Mann geheilt werden! Von diesem Mann! Ich appelliere an Ihr Mitgefühl mit den 300000 Krebspatienten in Deutschland, mit den 700 Menschen, die heute an Krebs gestorben sind. Es kann nicht sein, daß der Staat den Angeklagten hindert unendliches Leid unendlich vieler Menschen zu lindern!“

Den Verteidiger hält es nicht mehr auf seinem Stuhl. Mit bebender Stimme und weit ausholenden Gesten schleudert er die Worte zu den etwa hundert Zuschauern. Auf der Stelle frenetischer Beifall. Fast alle scheinen bedingungslose Anhänger des Angeklagten zu sein, entschlossen, der Kreuzigung ihres Heiligen unter Protest schaudernd und inbrünstig beizuwohnen.

Der Richter bittet um Ruhe. Das Publikum murrt. Zum wiederholten Male droht der Richter die Räumung des Saals an. Wütende Rufe. Der Richter verliest die Begründung des Oberverwaltungsgerichts Koblenz aus dem Jahr 1986, warum dem Angeklagten die Approbation, also die staatliche Zulassung zur Berufsausübung als Arzt, entzogen und auch nicht wieder erteilt wurde. Unruhe. Der Angeklagte: „Das ist der komplette Wahnsinn, den Sie verlesen haben! Es ist ein Kapitalverbrechen, das da dokumentiert ist!“ Donnernder Applaus. Der Richter: „Das ist ein rechtskräftiges Urteil.“ Gelächter.

Der Saal wird geräumt. Die Leute wollen nicht gehen. „Tragen Sie sie doch hinaus“, höhnt der Angeklagte. „Ich weigere mich, hier weiterzumachen“, protestiert der Verteidiger. „Mein Schwiegervater wurde von Freisler zum Tode verurteilt“, ruft der Angeklagte.

Seit dem 20. August bemüht sich der Kölner Amtsrichter Wolfgang Hilgert mit zwei Schöffinnen, den Prozeß gegen Ryke Geerd Hamer, 62, vormals Internist, heute als angeblicher „Krebsheiler“ apostrophiert, leidlich nach den Regeln der Strafprozeßordnung zu führen. Das ist angesichts der hochemotionalisierten, fanatischen Zuhörer, der rüden Attacken des Angeklagten und des distanzlosen Einsatzes seines Verteidigers Walter Mendel aus Krefeld fast unmöglich.

Für Hilgert ist der Angeklagte kein Unbekannter. Vor vier Jahren mußte er ihn schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten auf Bewährung wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz verurteilen. Hamer hatte, als er schon nicht mehr praktizieren durfte, das von Knochenkrebs befallene Bein eines Schülers in Gips gelegt, damit der Tumor „verkalken“ könne. Er versprach: „In sechs Wochen bist du geheilt.“ Der Schüler überlebte – nach Amputation und dank zehn Wochen Chemotherapie.

Der nationalen und internationalen Öffentlichkeit bekannt wurde Hamer in jüngster Zeit durch den Fall der an einem Wilms-Tumor an der Niere erkrankten sechsjährigen Olivia Pilhar, deren Eltern er überzeugte, daß das Kind nicht den Schulmedizinern, die es einer Chemotherapie unterziehen und operieren wollten, ausgeliefert werden dürfe. Als den Eltern das Sorgerecht für ihr todkrankes Kind von den Behörden in Österreich entzogen wurde, flohen sie 1995 mit ihm nach Spanien. Erst als der Zustand Olivias so bedrohlich und ihr grausames Leiden selbst dem Verblendetsten ins Auge sprang, kehrten sie zurück und übergaben widerstrebend das total erschöpfte Kind den Ärzten eines Wiener Krankenhauses.

Der Tumor war inzwischen auf die Größe eines Fußballs angewachsen, mehr als vier Kilo schwer. Er drückte bereits auf die verschleimte und entzündete Lunge, so daß Olivia nur mehr hecheln konnte. Ihr Bauch sah aus wie „bei einer erwachsenen Frau, die Zwillinge erwartet“, sagten die Wiener Ärzte. Ihre Blutwerte entsprachen denen von Hungerkindern der Dritten Welt, das Herz flatterte. Sie konnte nur noch wimmern vor Schmerzen.

Heute gilt Olivia, wie die Ärzte sagen, „so Gott will“, als geheilt. Doch die Eltern, die sich mit der „Zwangstherapie“ im Krankenhaus schließlich abgefunden hatten, sind noch immer nicht überzeugt, daß ihr Kind durch die Schulmedizin gerettet wurde. Der Vater, auch er saß im Saal in Köln, sagt: „Olivia befand sich bereits in der Heilungsphase, bevor sie auf die Intensivstation kam.“ Hätte Hamer sie weiterbehandelt, ginge es ihr heute noch viel besser.

Wegen fahrlässiger Körperverletzung „sowie Entziehung eines Minderjährigen aus der Macht des Erziehungsberechtigten“ wurden die Eltern Pilhar 1996 in Wiener Neustadt zu je acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Am vergangenen Donnerstag bestätigte das Wiener Oberlandesgericht das Urteil.

In Köln ist Hamer nun wiederum wegen Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz und wegen unterlassener Hilfeleistung angeklagt. Der Fall Olivia Pilhar zählt nicht zu den Anklagepunkten; wie bei anderen Fällen in Österreich, wo 1995 ein internationaler Haftbefehl gegen Hamer wegen ungeklärter Todesfälle von Patienten ergangen war, wird auch hier noch ermittelt.

Staatsanwaltschaft und Gericht widersetzen sich zwar standhaft dem hartnäckig wiederholten, leidenschaftlich vorgebrachten Ansinnen Hamers, von der „unsinnigen“ Anklage abzusehen und statt dessen die „Neue Medizin“ des Angeklagten zu überprüfen – denn die aus der Hamerschen Lehre zu gewinnende Heilgewißheit ist nicht Sache eines Amtsgerichts. Es muß nur prüfen, ob der Angeklagte etwas getan hat, was ihm nicht erlaubt war, und ob er sich dabei strafbar gemacht hat.

Im Grunde aber geht es auch hierbei um die sogenannte Neue Medizin und ihre eingängige simple Lehre von Krebsentstehung und Heilung, die den Kranken und seine Angehörigen, so wird behauptet, nicht der Hilflosigkeit, Verzweiflung und Angst vor qualvoller Therapie mit ungewissem Ausgang ausliefert, sondern ihm verläßliche Handlungsmöglichkeiten ohne Chemo– und Strahlentherapie verspricht. Ist die Neue Medizin richtig – im Gegensatz zur „falschen“ Schulmedizin, die „jeden Patienten in den Tod entläßt“, so argumentiert der Verteidiger -, sei Hamer nichts vorzuwerfen. Dann ist er keine Gefahr, im Gegenteil: ein Retter, ein Erlöser.

Der Fall Hamer hat eine lange, tragische Vorgeschichte, ohne die das bisweilen irre anmutende Gebaren des Angeklagten nicht zu erklären ist. Am 7. Dezember 1978, da war Hamer, 43, Facharzt für innere Medizin, mit einer Ärztin verheiratet und mit einem Sack voll Schulden beschwert – starb der 19jährige Sohn DIRK einen elenden, langen Tod. Vier Monate zuvor hatte ihn vor der Insel Cavallo an der Südspitze Korsikas auf einem Segelboot im Schlaf eine Kugel getroffen, die möglicherweise aus einer Waffe von Prinz Viktor Emanuel von Savoyen, dem Sohn des letzten italienischen Königs, stammte. Vorausgegangen war eine Auseinandersetzung zwischen dem Prinzen und jungen Leuten, die sich des prinzlichen Schlauchboots bedient hatten, in deren Verlauf Schüsse fielen.

Es dauerte Stunden, bis DIRK Hamer ärztlich versorgt wurde. Das Geschoß hatte eine Bordwand durchschlagen und DIRKs Hauptschlagader im Unterleib verletzt. Von Cavallo wurde er nach Porto Vecchio gebracht, dann nach Marseille geflogen. Mittlerweile war ein Wundbrand entstanden, ein Bein mußte amputiert werden.

Bei Nacht und Nebel holte Hamer seinen Sohn aus dieser Klinik und brachte ihn nach Heidelberg, was sich wahrscheinlich verheerend auf den Krankheitsverlauf auswirkte. Tag und Nacht wich der Vater nicht vom Krankenbett des Sohnes. Nach 19 Operationen starb der Junge qualvoll: „Es war die schwärzeste Stunde meines Lebens, viel schlimmer, als wenn ich selbst gestorben wäre“, sagte Hamer.

Zwei Wochen später sei er an Hodenkrebs erkrankt. In Tübingen wurde er operiert, auf eigenen Wunsch, wie er sagt (!), denn die Professoren hätten erst noch abwarten wollen. „Der Pathologe in Tübingen sagte am Tag darauf: Sechs Wochen später hätte ich keinen Pfifferling mehr für Sie gegeben.“

Die juristische Auseinandersetzung um den Tod von DIRK Hamer war ein nicht enden wollender, grotesker Kampf. Vater Hamer wollte den italienischen Thronprätendenten wegen Mordes angeklagt sehen: eine menschlich zwar verständliche, gleichwohl aber absurde Hoffnung. Der Prinz hatte erstklassige Anwälte und Beziehungen. Sage und schreibe 13 Jahre dauerte es, bis er endlich vor Gericht kam. Am 18. November 1991 wurde Viktor Emanuel in Paris vom Vorwurf der tödlichen Körperverletzung freigesprochen. Nur wegen unerlaubten Waffenbesitzes erhielt er sechs Monate auf Bewährung.

13 Jahre nach der Tat war nichts mehr aufzuklären. Medizinische Sachverständige, Hamer sagt, sie seien allesamt korrupt und gekauft gewesen, attestierten, der Schuß allein sei nicht die Todesursache, bei besserer medizinischer Behandlung hätte man sogar das Bein retten können. Die „unglücklichen Interventionen“ der Familie Hamer hätten ein übriges getan.

Aus dem Tod des Sohnes und darauffolgend seiner eigenen Krebserkrankung erwuchs Hamers Lehre von der „Eisernen Regel des Krebses„: Jeder Krebs entstehe in dem Augenblick, wenn die momentane Disposition mit einem verdichteten Konflikt und räumlicher, familiärer oder innerer Isolation zusammentreffe; der empfundene Konfliktinhalt bestimme die Lokalisation des Krebses; der Verlauf der Konfliktentwicklung bestimme die Entwicklung des Krebses.

Während Hamer auf einer gynäkologischen Krebsstation arbeitete, fing er an, nach auslösenden Konflikten bei den Patientinnen zu suchen. Er fand, wo immer er suchte, Beziehungskonflikte, Trennungskonflikte, Mutterkonflikte, Sexualkonflikte und so fort.

Zunächst stießen seine Thesen noch auf wohlwollendes Interesse der Kollegen, denen die Auffassung, daß Leib und Seele des Menschen nicht messerscharf voneinander zu trennen seien, nicht fremd war. Doch im Lauf seines Kampfes um die rechtliche Aufarbeitung des Unglücks vor Korsika verschärften und verhärteten sich auch seine medizinischen Theorien. Er fühlte sich zunehmend verfolgt, von allen Seiten: von den Detektiven der Savoyer, den Gerichtsvollziehern, den Schulmedizinern, der pharmazeutischen Industrie, der Justiz.

1985 starb seine krebskranke Frau an einem Herzinfarkt. 1986 wurde ihm die Approbation entzogen. „Privatpensionen“, in denen er Todkranken helfen wollte bei der Beseitigung ihrer „Konflikte“, mußte er schließen. Seine Habilitationsschrift lehnte die Universität Tübingen ab. Seine immer radikaler werdenden Ansichten stießen bei Medizinern auf immer schärfere Ablehnung. Er fühlte sich als „Anwalt der Leidenden“.

Hamer ist ein großer, schwerer Mann. Federnd betritt er aus der U-Haft den Gerichtssaal. Allzugern würden ihm manche Zuschauer Röntgenbilder zur Prüfung zustecken, um Rat fragen, ihr Leid schildern: Ein jeder von ihnen ist Beleg für die Unzulänglichkeiten der Schulmedizin und ihrer Mediziner. Warum pilgerte und pilgert noch immer die Elite der deutschen Sportler nach Freiburg zu dem umstrittenen Professor Klümper? Weil ihnen der „Doc“, wann immer sie zu ihm kommen, das Gefühl vermittelt, sie seien sein einziger Patient auf der Welt. Das ist eine besondere Gabe, und über die verfügt offensichtlich auch Hamer.

Seine Thesen sind längst zu formelhaften, keinen Widerspruch zulassenden Glaubensbekenntnissen erstarrt. Einwände werden nicht akzeptiert und nicht bedacht, sondern als Angriff verstanden, das eigene Handeln steht außer Frage.

Einem an Knochenkrebs erkrankten Jungen empfahl Hamer 1995 als Therapie eine Reise nach Spanien; vier Monate später war das Kind tot. Einer 59 Jahre alten krebskranken Frau riet er, sich zu entscheiden: „Trennen Sie sich oder ziehen Sie mit Ihrem Freund zusammen, dann werden Sie gesund“; auch sie starb. Den Angehörigen eines 29jährigen Kölners, der schon im Koma lag, soll er abgeraten haben, den Notarzt zu holen. Der Mann starb noch am selben Tag. In den Monaten zuvor, so die Staatsanwaltschaft, habe er empfohlen, der Mann solle keine Medikamente mehr nehmen: „Deine Leukämie verschwindet, wenn du die Konflikte mit deiner Freundin löst.“ Schicksalsschläge haben aus dem gefährdeten Menschen Hamer eine Gefahr für andere werden lassen.

Die Thesen, die Hamer heute als absolute Wahrheit vertritt, sind abenteuerlich; Karies sei ein Konflikt des „Nicht-zubeißen-Könnens“: Sie entstehe bei Kindern, weil diese von älteren ausländischen Mitschülern eingeschüchtert werden. Gelinge es, den Seelenkonflikt abzubauen, „schickt die Mutter Natur Tuberkelbazillen, die das Geschwür verkäsen und abräumen“. AIDS sei eine Allergie gegen das männliche Smegma, die Substanz also, die sich unter der Vorhaut bildet; und Diabetes sei ein Sexualkonflikt, jedenfalls bei einer linkshändigen Frau. „Die ekelt sich vor Spinnen, Fröschen und dem männlichen Glied.“

Zuletzt, am Freitag: wieder Ablehnungsanträge gegen Richter Hilgert. Hamer wird von der Sitzung ausgeschlossen, als er den Vorsitzenden der „vorsätzlichen Tötung“ anklagt, offenbar weil der mordet, der Hamer nicht heilen läßt. Eine Strafe ohne Bewährung wird gegen ihn beantragt, zwei Jahre, vier Monate. Er sei wie einer, der sich ohne Führerschein ans Steuer setzt. „Er macht immer weiter.“ Das muß wohl so sein, denn für seinen Verteidiger war der letzte, der die Welt revolutionierte, „vor Hamer Galileo Galilei“.

Hamer, zum Schlußwort wieder im Saal, spricht vom globalen Krieg zwischen seiner Neuen Medizin und der Schulmedizin, von der Allianz von Staatsjustiz, Staatsmedizin und Staatsmedien. Er zitiert einen Psychiater, der ihn einen politischen Gefangenen genannt hat. Am Dienstag soll das Urteil verkündet werden.

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