Die sechsjährige Olivia hat Krebs und könnte geheilt werden. Doch die Eltern verstecken sie vor Schulmedizin und Behörden.

Von SONJA BETTEL u. CHRISTIAN SKALNIK

Schon drei Wochen lang hatte sich Helmut Pilhar nicht mehr nach Hause gewagt. Gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern fand er bei Bekannten in der Nähe seines niederösterreichischen Heimatortes Unterschlupf.

Ein Anruf bei den Schwiegereltern bestätigte seine Befürchtungen: Am vergangenen Mittwoch war ein Brief des Pflegschaftsgerichtes Wiener Neustadt eingetroffen: Ab sofort, heißt es darin, werde den Eltern das Sorgerecht für die sechsjährige Tochter Olivia entzogen und für die Dauer einer Krankenbehandlung dem Jugendamt übertragen. „Wir müssen weg“, teilte Helmut Pilhar in seinem letzten Telefonat mit profil mit. „Wir wissen noch nicht, wohin. Möglicherweise gehen wir auch ins Ausland.“

Bis vor wenigen Wochen, erzählt der 30jährige Computertechniker, habe er „ein stinknormales Leben“ geführt. Zuletzt habe sich die ganze Familie samt Großeltern auf Olivias Schulbeginn im Herbst konzentriert. „Sie ist sehr sensibel“, betont Pilhar. „Man darf sie nicht einmal schief anschauen, sonst weint sie gleich.“

Am 17. Mai weinte das Mädchen aber ohne ersichtlichen Grund. Olivia klagte den ganzen Tag über Bauchschmerzen. Die Mutter, eine 32jährige Werkerzieherin und überzeugte Anhängerin alternativmedizinischer Schulen, ließ die Hausmittel diesmal im Schrank und brachte Olivia in die Kinderklinik des Wiener Neustädter Krankenhauses.

Die befürchtete Blinddarmentzündung ließ sich in der ersten Untersuchung nicht feststellen. Doch schon am Tag darauf hatte der Primar Olaf Arne Jürgenssen eine weit schlimmere Nachricht zu überbringen: Olivia hat Krebs. Der Willms-Tumor, den die Ärzte an ihrer Niere entdeckt hatten, tritt nur bei Kindern auf. Jürgenssen schickte die Familie noch am selben Tag nach Wien zu den Spezialisten ins St.-Anna-Kinderspital. Vier Tage lang wurde Olivia dort untersucht.

„Meine Mitarbeiter haben über das Wochenende viele Gespräche mit den Eltern geführt. Die Eltern wirkten eigentlich sehr vernünftig, man konnte gut mit ihnen reden“, erinnert sich der ärztliche Leiter der Klinik, Helmut Gadner. Geduldig hörten sich Helmut und Erika Pilhar die Therapievorschläge an: Eine sofort zu beginnende Chemotherapie sollte den Tumor zunächst schrumpfen lassen. Nach einigen Wochen hätte das bösartige Geschwür – und vermutlich auch ein Teil der betroffenen Niere – operativ entfernt werden sollen. Am Ende wären Bestrahlungen gestanden, die ein neuerliches Tumorwachstum verhindern hätten sollen. Eine langwierige und belastende Prozedur, an deren Ende, so versicherten die Krebsspezialisten Olivias Eltern, 95 Prozent aller Willms-Tumor-Fälle als geheilt entlassen werden können.

Als die Ärzte am Montag mit der Chemotherapie beginnen wollten, packten die Eltern ihr Kind und alle Unterlagen ein und verschwanden. Helmut Pilhar: „Als wir im Spital waren, ist ein kleines Mädchen ins Zimmer gekommen. Sie hat Knochenkrebs. Wegen der Chemotherapie hatte sie einen aufgeblasenen Kopf, keine Haare, konnte nicht schlucken. Da habe ich gewußt: Mein Kind kann dieses Schicksal nicht durchstehen.“

Die Familie suchte nach Alternativen. Von Freunden erhielten sie die Adresse eines Kölner Internisten, der verspricht, krebskranke Menschen auch ohne Chemotherapie und operative Eingriffe heilen zu können. Daß Ryke Geerd Hamer schon 1986 seine Zulassung als Arzt entzogen wurde, störte Familie Pilhar nicht. „Seit meine Frau ihre Schuppenflechte mit Naturheilmethoden behandelt“, erklärt der Vater, „sind wir überzeugte Anhänger der Alternativmedizin geworden.“

Hamer hat seine wissenschaftlich fragwürdigen Theorien über die Entstehung und Behandlung von Krebs nach einem persönlichen Schicksalsschlag entwickelt: Sein 19jähriger Sohn DIRK wurde 1978 in Italien erschossen. Hamer erkrankte bald darauf an Krebs. Tumorleiden, verkündet er seither das Credo seiner „Neuen Medizin„, seien immer die direkte Folge eines psychischen Konfliktes oder eines Schocks und könnten nur durch „Confliktolyse“ geheilt werden. Welcher Konflikt krankheitsverursachend und daher aufzulösen sei, so Hamer, könne er anhand einer Computertomographie des Gehirns entdecken. „Dieser Mann“, zitiert ein steirischer Ärztekammerfunktionär aus dem deutschen Gerichtsbeschluß, der Hamers ärztliche Karriere beendete, „hat aufgrund seiner besonderen Persönlichkeitsstruktur eine mangelnde Einsichtsfähigkeit in allgemeingültige wissenschaftliche Erkenntnisse.“

Für Olivias Eltern war Hamers Weltbild jedoch durchaus einleuchtend. Olivia, so der Wunderheiler, der heute offiziell nur noch als „Berater“ auftritt, leide nicht an einem Willms-Tumor, sondern an einer harmlosen Zyste, die infolge eines „Wasserkonflikts“ entstanden sei. Die Ursache war rasch gefunden: Olivia war im Alter von eineinhalb Jahren mit ihrer Tante in einem Schlauchboot über einen See gerudert. Als dem Boot die Luft ausging, waren Tante und Kind in Panik geraten.

Obwohl bei den schulmedizinischen Untersuchungen kein Anzeichen für ein Leberkarzinom gefunden wurde, diagnostizierte Hamer ein solches. Auch dafür hatte der Wunderheiler eine Erklärung: Weil Olivias Familie im vergangenen September zu den Großeltern übersiedelt war, wäre das Mädchen einem „Flüchtlingskonflikt“ ausgesetzt gewesen, weil sie die Kochkünste der Großmutter nicht goutiert hätte, sei ein erschwerender „Verhungerungskonflikt“ dazugekommen. Die Mutter, so Hamers ausschließlicher Therapievorschlag, müßte nichts anderes tun, als den neuen Job zu kündigen und wieder bei den Kindern zu Hause bleiben. Dann würde Olivia sofort wieder gesund. Die Schmerzen und das Fieber, wußte er noch zu beruhigen, seien keine Anzeichen für ein Fortschreiten des Krebses, sondern nur der Beweis dafür, daß der Heilungsprozeß schon eingesetzt habe.

„Für uns ist das alles einleuchtend“, sind Helmut Pilhar und seine Frau fest entschlossen, Hamers Rat zu folgen und keine weiteren Schulmediziner zu konsultieren. Ein Phänomen, das Krebstherapeuten in Ansätzen immer wieder beobachten: Eltern von krebskranken Kindern, geht aus einer vom Berufsverband Deutscher Psychologen zu Jahresbeginn veröffentlichten Studie hervor, würden aus dem Gefühl der Unbegreiflichkeit und Schuld die Krebsdiagnose oft einfach verleugnen. Viele wechseln am Anfang häufig den Arzt und verzögern so den Beginn der Therapie.

„Der Wunsch der Eltern, alles ungeschehen zu machen“, meint Rainer Seidl von der Onkologischen Station der Kinderklinik am Wiener AKH, „ist legitim. Aber das ist nicht möglich.“ Für Olivia hofft er auf rasche Einsicht der flüchtigen Eltern: „Willms-Tumor ist heilbar, aber man muß rasch handeln. Jeder Monat, den man verliert, ist schlimm.“

Gerade deshalb wollte auch der St.-Anna-Kinderspital-Chef Helmut Gadner keine Zeit verlieren und verständigte nach dem Verschwinden der Eltern den zuweisenden Kollegen Jürgenssen in Wiener Neustadt. Als ein weiteres Gespräch mit Olivias Vater nicht zum gewünschten Ziel führte, zeigte Jürgenssen die Eltern beim Jugendamt an: „Es ist nicht lustig, eine Behandlung gegen den Willen der Eltern durchzuführen, vor allem, wenn sie Monate dauert. Aber in Linz sind zwei Ärzte verurteilt worden, weil sie bei einem Baby nicht gegen den Willen der Eltern eine lebensrettende Bluttransfusion gemacht haben.“

„Wenn mir das Gericht mein Kind wegnehmen will, gehe ich lieber ins Gefängnis“, will sich Helmut Pilhar aber auf keinen Fall dem befristeten Sorgerechtsentzug beugen. „Das gibt’s gar nicht, daß mein Kind stirbt.“ Wo er sich mit seiner Familie verstecken will, wollte er profil nicht verraten. Selbst seinen Schwiegereltern teilte er im letzten Telefonat nur mit: „Olivia geht es gut. Aber die Flucht könnte bei ihr womöglich zu neuen Konflikten führen.“

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