„Box- statt der Samthandschuhe“
Im Fall Olivia Pilhar ging die Stadt Wien gestern in die Offensive: Sie will den „Wunderheiler“ Hamer bei der Staatsanwaltschaft anzeigen. Jener Ärztin, die die Familie Pilhar zu Hamer geschickt hatte, droht ein Disziplinarverfahren.
WIEN (g. h., mü, st). Die Stadt Wien wird den „Wunderheiler“ Ryke Geerd Hamer bei der Staatsanwaltschaft Wien anzeigen. Vizebürgermeister und Gesundheitsstadtrat Sepp Rieder (SP) kündigte gestern an, er werde zum Fall der kleinen Olivia eine Sachverhaltsdarstellung der Staatsanwaltschaft übermitteln.
Es sei Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen und Boxhandschuhe anzulegen, sagte der Stadtrat. Denn es gehe hier nicht um seriöse Alternativ- bzw. Komplementärmedizin, sondern es gelte Scharlatanen und selbsternannten Wunderheilern das Handwerk zu legen. Rieder forderte dazu eine entsprechende Gesetzesänderung. Er sprach von „Menschen, die zu Mördern werden können“, ohne freilich Hamer als solchen zu bezeichnen. Hier werde nicht nur fahrlässig, sondern vorsätzlich eine Gesundheitsgefährdung und im schlechtesten Fall eine Tötung in Kauf genommen, so Rieder.
Es gehe im Fall der sechsjährigen Olivia nicht um einen medizinischen Methodenstreit, sondern darum, daß durch eine Verzögerung oder Nicht-Behandlung von Olivia das Leben des Kindes aufs Spiel gesetzt werde.
Seitens der Wiener Ärztekammer wird geprüft, ob gegen die Wiener Ärztin Elisabeth Maria Rozkydal eine Disziplinaranzeige erstattet wird. Sie hatte das Ehepaar Pilhar nach der Untersuchung von Olivia zu Hamer geschickt. Sollte die Disziplinarkommission ein schweres Fehlverhalten der Ärztin feststellen, droht ihr im schlimmsten Fall sogar Berufsverbot.
Gespräch im Kinderspital
Gegen 15 Uhr trafen sich in der Bibliothek des St.-Anna-Kinderspitals sechs Ärzte und Heinz Zimper, jener Jurist der Bezirkshauptmannschaft Wr. Neustadt, dem das Sorgerecht der kleinen Olivia obliegt. Unter den Ärzten: Helmut Gadner, Chef des St.-Anna-Kinderspitals und die Neonatologin Marina Marcovich. Den Rest der Belegschaft wollte Zimper, der sich nach dem dreistündigen Ärztegipfel allein den Medien stellte, nicht nennen. Fest steht, daß unter den Medizinern auch Vertrauensärzte der Familie Pilhar waren, also Ärzte, die der „Neuen Medizin“ Hamers nahestehen.
Über das Verhandlungsergebnis hüllte sich Zimper in Schweigen. „Das Ergebnis war sehr interessant. Ein Weg wird beschritten, ich kann den Weg jedoch nicht skizzieren.“ Durch das Stillschweigeabkommen wolle man den Druck von der Familie nehmen, so Zimper. Er bestätigte jedoch, daß Untersuchungen des kleinen Mädchens eingeleitet worden seien.
Olivia Pilhar war – wie berichtet – Montag früh mit einem Jet der Ärzteflugambulanz von Malaga nach Österreich geflogen worden. Sie wurde vorläufig von der Außenwelt abgeschirmt, um dem Mädchen nach der zweiwöchigen Flucht durch Deutschland, die Schweiz und Spanien ein wenig Ruhe zu gönnen.
Der Wiener Neustädter Primar Olaf Arne Jürgenssen, der sich in den vergangenen Monaten vehement für Olivia eingesetzt hatte, zeigte sich gestern froh darüber, daß Olivia endlich in Österreich sei – er warte nun auf eine „g’scheite Behandlung“, sagte der Arzt zur „Presse“: „Ich bin zutiefst überzeugt, daß Hamer in diesem Fall keine Chance mehr sieht und nun sagen kann, daß das Kind in den Händen der Schulmedizin stirbt“. Dieses Verhalten sei, so Jürgenssen, untypisch für Hamer: Bisher sei der Wunderheiler „mit fast jedem Patienten bis ins Krankenzimmer gegangen“.
„Viva Olivia„
Ryke Geerd Hamer, unter dessen direktem Einfluß die Familie bis Montag früh gestanden war, hat das Hotel „Las Vegas“ in Malaga mittlerweile am Dienstag ebenfalls verlassen. Er sei aber noch in Spanien, hieß es am Dienstag im Hotel, vorerst sei nur die Familie Pilhar weggefahren.
Die Dolmetscherin Hamers habe die beiden Hotelzimmer am Dienstag bezahlt, hieß es – sie kosten pro Tag und Person 9415 Peseten, also umgerechnet etwa 800 Schilling. Auch für die recht hohe Telephonrechnung Hamers und der Familie Pilhar kam die Dame auf
Hamer verschickte gestern an die Medien seitenlange Erklärungen unter dem Titel „Viva Olivia„. Trotz der Negativ-Berichterstattung im Fall Olivia Pilhar läuten im Büro Hamers im steirischen Burgau ununterbrochen die Telephone. Eine Steigerung der Zahl der Anrufe habe man in den vergangenen Wochen aber nicht verzeichnet, hieß es. Hamer selbst wird in den nächsten Wochen nicht in Burgau erwartet, die nächsten Treffen werden erst im Herbst abgehalten. Derzeit beschränkt man sich auf den Versand von Broschüren, in denen Hamer seine „Neue Medizin“ erklärt.
Wie lange Hamers Büro noch im Schloß in Burgau beheimatet sein wird, entscheidet sich heute um 19 Uhr. Da findet in Burgau eine Gemeinderatssitzung statt: Die SPÖ, mit fünf Mandaten zweitstärkste Fraktion, will – wie berichtet – eine Kündigung des Mietvertrages verlangen. Ob auch einige der acht VP-Gemeinderäte sowie die beiden F-Vertreter mitstimmen, ist unklar.
SP-Gesundheitssprecher Walter Guggenberger forderte die Schließung der „Klinik“. Ein Scharlatan wie Hamer dürfe seine krausen Theorien nicht in dem von der Gemeinde gemieteten Schloß verbreiten.