Medecines Nouvelles

(Übersetzung aus dem Französischen)

Ein Überlebensprogramm

Auf dem von Dr. Philippe Lagarde organisierten Kongreß in Trévise hat Prof. Lucien Israel ein Referat gehalten, in dem er zu erstenmal seine ureigene Überzeugung darlegte, nach der der Krebs nicht, wie man heute noch allgemein glaubt, eine Pathologie im eigentlichen Sinne, eine Krankheit ist, sondern vielmehr ein biologischer Prozess, der absolut verknüpft ist mit dem Auftreten des Lebens auf der Erde, ein von den ersten Bakterien, die es auf der Erdoberfläche gab, ererbtes genetisches Programm.

Anfang der 60er Jahre habe ich begonnen Krebserkrankungen zu behandeln und ich habe mich immer gefragt, was wohl der Status dieser Krankheit sei, was sie zu bedeuten habe aus der Sicht der Entwicklung des Lebens auf diesem Planeten, diese Erkrankung, die keine Infektion, keine Entartung ist und die nicht ihresgleichen hat. Den Krebs zu behandeln ist richtig und gut und wir machen auf diesem Gebiet zum Glück einige Fortschritte. Aber zu versuchen zu verstehen, was das im Abenteuer der Lebewesen zu bedeuten hat, ist eine andere Sache. Und ich glaube, dass ich dies nun endlich verstanden habe. Sie werden darüber urteilen.

Ich werde zunächst über die Beziehung sprechen, die zwischen Krebs und dem Alterungsprozess besteht. Erstens, das Auftreten der Krebserkrankung nimmt im Alter stark zu. Ich spreche von den sporadischen Krebserkrankungen. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Krebs und dem Alter.

Das Überleben der menschlichen Rasse

Zweitens gibt es eine lineare Relation zwischen dem zeugungsfähigen Alter, der durchschnittlichen Lebensdauer und dem durchschnittlichen Alter, in dem sporadische Krebserkrankungen auftreten. Das bedeutet, dass die Natur Krebsabwehrsysteme entwickelt hat, um die Nachkommen abzusichern, aber nicht, um die Individuen zu schützen.

Wenn unsere Kinder das zeugungsfähige Alter erreichen, werden die Abwehrsysteme schwächer, und zwar nicht gegen den Krebs, sondern auch gegen das Altern. Und das sind übrigens die gleichen.

Es ist schon viel berichtet worden über den oxydativen Stress und zwar mit vollem Recht. Wir sind durch eine gewisse Anzahl von Enzymen dagegen geschützt, aber diese Enzyme verbrauchen sich mit dem Alter.

Der oxydative Stress schädigt die alternden Gewebe oder ruft genetische Schäden hervor, die einen Aufruhr der Zellen einleitet. Eine angegriffene Zelle hat zwei Möglichkeiten:

Entweder sie stirbt, indem sie den Zelltod einleitet
Oder sie lehnt sich dagegen auf, und das ist das Krebsgeschehen.
Also, die Natur schützt uns schon. Sie hat für die Erhaltung unserer Abwehrsysteme gesorgt, bis unsere Kinder das zeugungsfähige Alter erreicht haben und dann verliert sie das Interesse an uns, da für den Nachwuchs gesorgt ist.

Die klassische Theorie der Krebsentstehung

Was ist die klassische Theorie der Krebsentstehung, wie sie heute gelehrt wird? Das ist das Gesetz des Zufalls. Im Laufe der Zeit akkumulieren sich bei uns umweltbedingte Schäden. Die Zeit und der Zufall führen gemeinsam zum Beginn und dann zum fortschreitenden Krebswachstum (s.a. „Medecines Nouvelles“ No 1-4 Artikel von Dr. Philippe Lagarde über die Mechanismen der Krebsauslösung). Von diesem Moment an gibt es eine Zellvermehrung, die den internen Kontrollen entgleitet. Es gibt zwei Arten der internen Kontrolle: die Antikrebsgene und dann einen Informationsaustausch zwischen den Zellen, um ihre wechselseitige Zellvermehrung zu kontrollieren.

Und nun muß ich noch ein weiteres Phänomen erwähnen: die Progression in der Bösartigkeit.

Eine Krebszelle wird zunehmend bösartig, zunehmend aggressiv, zunehmend besitzergreifend, und dadurch wird sie im Laufe der Zeit autonom. In der klassischen Darstellung beruht die Progression der Bösartigkeit ebenfalls auf zufällige Mutationen, die sich summieren. So wird es im Moment gelehrt. Ich möchte über die Schwachpunkte dieser Theorie diskutieren.

Nichts passiert zufällig

Es scheint so zu sein, dass die fortschreitende bösartige, rapide, unerbittliche Entwicklung eines Ausnahmetyps nicht dem Zufall unterliegt. Jedes Mal, wenn die Krebszelle eine weitere Ausdehnung erreicht, passiert das nicht einfach so. Sie produziert Wachstumsfaktoren, Hormone, Stoffe, die die Zellteilung bewirken (z.B. COX 2). Man beobachtet niemals etwas anderes.

Der Zufall hat an der fortschreitenden Entwicklung zur Bösartigkeit keinen Anteil. Andererseits werden die Gene im Kern der normalen Zelle aktiviert, nicht aber mutiert. Diese Biologie der Krebszelle hängt nicht von Mutationen ab, die durch die Umwelt zufällig hervorgerufen werden. Die Progression zur Bösartigkeit ist ein Phänomen, das programmiert abläuft und wobei nichts zufällig geschieht.

Nehmen wir einmal das Beispiel der Telomerase. Bei jeder Zellteilung verbrauchen sich unsere Telomere, und eines Tages gibt es nicht genug davon (die Telomere, die an jedem äußeren Ende der menschlichen Chromosomen vorhanden sind, geben Aufschluß über die maximale Lebensdauer des Menschen, die heute auf ca. 120 Jahre geschätzt wird).

Man kann die Gene der Telomerase reaktivieren, aber wenn man das macht, wird die Zelle kanzerös. Also, es gibt keine Chance. Wird man eines Tages dieses Problem überwinden?

Eine ausgefeilte Organisation

Die Tumorzellen lernen, autokrine Wachstumsfaktoren herzustellen, indem sie die schlafenden Gene in normalen Zellen reaktivieren. Sie produzieren ebenfalls Rezeptoren für parakrine Wachstumsfaktoren, die von außen kommen.

Übrigens passiert da noch etwas ganz außergewöhnliches: Den Krebszellen gelingt es, die normalen Zellen der umliegenden Gebiete so umzuprogrammieren, dass sie ihnen bei der Zellteilung helfen. Es ist so, dass die Fibroblasten anfangen, Wachstumsfaktoren zu bilden, dass die Makrophagen Prostaglandine bilden, dass die endothelialen Zellen mehr und mehr den angiogenetischen Faktoren entsprechen, usw. …

Und dann passiert da noch etwas, was für die Progression zur Bösartigkeit charakteristisch ist: Es kommt zu einer Resistenz gegen toxische Stoffe, die besonders in der Behandlung benutzt werden. Im großen und ganzen bewirken diese Widerstandsmechanismen, dass die toxischen Stoffe eliminiert werden. Einige werden gespalten, aber der größere Teil wird ausgeschieden.

Gewöhnlich denkt man, dass diese Resistenz durch die Medikamente entsteht. Das ist nicht wahr, denn es gibt Resistenzformen, die bereits bei der ersten Chemotherapie auftreten.

Zum Schluß sind die Krebszellen gegen Behandlungen völlig unempfindlich geworden.

Schließlich haben wir demonstrieren können, dass die Krebszellen eine Produktion von Entzündungsproteinen durch die Leber bewirken. Wir haben diese Proteine in vitro getestet (Orosomukoide u.a.) und zwar mit Systemen, die die Reaktion auf chemische Stoffe anzeigen. Wir haben festgestellt und das in „Cancer Research“ veröffentlicht, dass die Entzündungsproteine, die die Krebszellen bedecken, die Makrophagen und Lymphozyten abweisen und somit eine negative Reaktion auf chemische Stoffe bewirken.

Wir haben auch gezeigt, dass sie noch etwas anderes machen können, indem sie das Antigen Phas herstellen. Wenn die Lymphozyten auf Phas stoßen, sterben sie. Das heißt, dass die Krebszellen den Lymphozyten Antigene senden, die sie töten. In der Tat, bei der Krebszellvermehrung handelt es sich um die progressive Ausbreitung bis zu einer außerordentlichen Autonomie, die den internen und externen Abwehrsystemen überlegen ist.

Man kann andererseits auch sagen, dass ein Verschwinden der Unterdrückerprogramms nicht zu beobachten ist.

Die Evolution hat in den multizellulären Organismen verschiedene Systeme gegen die Krebsentstehung eingebaut, um die Zellteilung zu kontrollieren.

In einem normalen Gewebe hat eine differenzierte Zelle ihre bestimmte Lebensdauer, ist diese eines Tages erreicht, verliert sie ihre Rezeptoren für Wachstumsfaktoren und stirbt ab, das nennen wir den Zelltod.

In diesem Moment bemerkt eine Stammzelle das Verschwinden und beginnt sich in zwei Zellen zu teilen. Die eine wird wieder Stammzelle, die andere durchläuft die Entwicklung zur Differenzierung.

Im Krebsfalle laufen die Dinge überhaupt nicht so ab

Ersten sind die Krebszellen resistent gegen den Zelltod und sie sind somit die einzigen Zellen, die in der Lage sind, für eine normale Nachkommenschaft zu sorgen.

Eine geschädigte Zelle wird sich lieber umbringen, als dass sie eine anomale Nachkommenschaft bekommt. Die Krebszelle akzeptiert, dass sie eine Schädigung weitergibt, das bezeichnet man dann als „erreur prone“ nach Einert Rupert.

Die Zellvermehrung vollzieht sich in einem Ausmaß, das weit über das notwendige Maß hinausgeht. Die Krebszelle hat die notwendigen Maßnahmen getroffen, um alle Hemmschwellen zur Vermehrung zu überwinden und teilt sich bis ins Unendliche.

So ist das mit dem Krebs und es ist allemal beeindruckend.

Zu ihrem Schutz haben die multizellulären Organismen verschiedene System gegen die Krebsentstehung entwickelt, aber im Krebsgeschehen werden die Antikrebsgene entweder zum Schweigen gebracht oder mutiert, und der Tumor setzt eine unendliche Zellvermehrung fort.

Man kann sicher auch sagen, dass die Tumorzelle eigentlich ihre Zukunft nicht gut meistert, da sie schließlich den Wirt tötet und mit ihm auch sterben wird. Aber dann hat sie eine beträchtliche Menge von Folgegenerationen gehabt.

Ich vergaß noch etwas Außerordentliches zu erwähnen:

Der Tumor sendet Metastasen aus. Er gibt sich nicht damit zufrieden, an einem Ort zu verbleiben. Mit Hilfe der Proteasen bringt er es fertig, die Membrane zu durchbrechen, im Kreislauf zu überleben – in dem es ganz außerordentliche Sauerstoffdruckunterschiede gibt – und dann einen Klumpen zu bilden, um sich irgendwo anzusiedeln und das Endothelium zu durchdringen.

Es ist also so, dass eine Lungenzelle z.B. in der Leber überleben kann, wenn sie kanzerös ist. Es handelt sich wieder einmal um Vereinnahmung von neuen Gebieten, damit die Krebszelle überleben kann.

Ein Überlebensprogramm

Dieses unerbittliche Verhalten dieser Krankheit hat mich dazu gebracht, zu überlegen, dass der Zufall damit nichts zu tun haben könnte, und dass es sich in Wirklichkeit vielmehr um ein reines Überlebensprogramm handeln muss. Die Krebszellen statten sich mit einem Überlebensprogramm aus.

Ich muß zugeben, dass ich um einige Jahre verspätet entdeckt habe, dass es ein solches Überlebensprogramm in der Natur gibt. Die Bakteriologen kennen es seit 1974. Sie haben es beschrieben. Es heißt das „S.O.S.-System“. Darüber will ich jetzt sprechen.

Was kann das S.O.S.-System der Bakterien denn wohl sein?

Zunächst muß eine Sache erwähnt werden: die Bakterien sind vor ca. 3 ½ Milliarden Jahren auf diesem Planeten entstanden. Sie haben allem widerstanden.

Gegenwärtig haben bestimmte Arten Bakterien gelernt, bei Anwendung von Antibiotika zu überleben. Wissen Sie, dass, wenn verschiedene Bakterien zusammenleben, diese Resistenzgene austauschen?

Sie haben offensichtlich ganz außergewöhnliche Anpassungsfähigkeiten, wodurch sie alle Unwägbarkeiten überwinden können. Wie funktioniert dieses S.O.S.-System?

Also gut, es kann mit allen Angriffsmöglichkeiten umgehen (Verminderung oder Verschwinden des Lebensmilieus, Veränderungen im pH-Wert, in der Temperatur usw.), indem es gleichzeitig alle Gene (zusammen ca. 15) einsetzt. Alle diese Gene unterstehen dem Kommando eines einzigen Gens, dem Lex A.

Ebenso gibt es einziges Gen, das dieses Überlebensprogramm einleitet: Rex A. Und dieses wird bei einer beliebigen Aggression aktiviert, und somit wird das Überleben der Bakterie ermöglicht.

1994 fiel ich aus allen Wolken, als ich entdeckte, dass es hierzu eine Analogie, ein Pendant, zwischen den Genen des S.O.S.-Systems und den Genen, die beim Krebs aktiv werden, gibt.

Im Grunde konnten wir nur von den Genen der Bakterien etwas übernehmen. Das Leben ist auf diesem Planeten nur einmal erfunden worden. Folglich sind wir die Kinder der Bakterien und wir haben das S.O.S.-System ererbt. Dies ist der Beweis für die außergewöhnliche Leistungskraft des Lebens.

Ich bin daher überzeugt, dass das Phänomen, das wir Krebs genannt haben, nichts anderes ist als die Reaktivierung dieses Überlebensprogramms in unseren Zellen.

Allmählich gibt es dafür Beweise: Wir haben nämlich in unseren Zellen ein Pendant zum Gen Rex A entdeckt, dass beim Aufbau und der Vermehrung der Zelle wirksam ist, und das ist das Gen RAD 51. Bei den höheren Organismen gibt es ein Unterdrücker-System des S.O.S.-Systems: die Antikrebsgene. Aber dieses Repressionssystem verbraucht sich mit der Zeit.

Im Augenblick haben wir noch kein entsprechendes Gen für Lex A, d.h. für den zentralen Repressor, gefunden. Ich denke, dass man ihn eines Tages entdecken wird.

Es ist wahrscheinlich, dass die Krebszellen im Inneren eines Tumors ihres Resistenzgene ebenso wie die Bakterien austauschen.

Erste Schlussfolgerungen

Erstens, der Krebs wird die Menschheit auf ihrem weiteren Weg begleiten. Es ist keine Krankheit, die man ausradieren kann. Aber wir werden wahrscheinlich in der Lage sein, sie zu zähmen.

Zweitens, es wird eine Gentherapie geben, wenn man ein Pendant zum Lex A entdeckt hat. Man wird dann die Gene des S.O.S.-Systems abriegeln können.

Drittens kann eine Chemotherapie Krebszellen töten – und es ist keine Frage, dass man sie wenigstens im Moment einsetzt – aber, wenn sie die Zellen nicht tötet, kann sie nur eine Aggression darstellen und die Krebszellen, die ihr entkommen sind, noch resistenter, bösartiger und aggressiver werden lassen.

Man muß also verschiedene Mitteln einsetzen und sie mit allen möglichen Maßnahmen begleiten: mit verschiedenen Wirkstoffen, die die Angiogenese verhindern, die das Absterben der Zelle fördern, die das Wachstum verhindern.

Ich danke Ihnen.

Prof. Lucien Israel

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