Oft wird der Mensch mit sehr schmerzlichen Situationen konfrontiert. Er hat dann lediglich zwei Möglichkeiten. Sie anzunehmen, um das Beste daraus zu machen oder aufzugeben.
Wir mussten durch. So wie viele vor uns, standen nun auch wir am Beginn einer schweren Zeit. Niemand konnte jetzt sagen, wie diese Geschichte enden würde. Jeder hoffte das Beste und rechnete mit dem Schlimmsten.
Ich fuhr mit dem Auto von Maiersdorf nach Wr. Neustadt, machte ein paar Besorgungen für Olivia, wie Hausschuhe usw. und fuhr anschließend mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Wiener St. Anna-Kinderspital.
Am Nachmittag klärte uns eine Ärztin über Olivias Krankheits- und Behandlungsverlauf auf. Es wird eine mehrwöchige Chemotherapie vor der Operation stattfinden, dann wird operiert und danach die Chemotherapie fortgesetzt. Sie bewertete die Überlebenschance mit 70-80%. An der Leber befände sich ein Schatten, den die Ärzte noch nicht richtig interpretieren könnten. Sie versprach uns, dass ein ausführliches Ärztegespräch vor Beginn der Therapie erfolgen würde.
Die Ärztin sprach ruhig auf uns ein. Wir müssten unser ganzes Leben nun auf diese neue Situation erst schön langsam umstellen. Wir waren betroffen, als sie in Erwägung zog, dass Olivia vielleicht auch auf anderen Organen Metastasen haben könnte. Was sollte der Schatten auf der Leber bedeuten? Dies würde erst die kommenden CTs ergeben.
Bis jetzt glaubten wir, Olivia würde sofort operiert. Jetzt hieß es, es müsse eine sechswöchige Chemo vorgeschoben werden.
Und wie sollten wir mit den %-Angaben an Überlebenschance umgehen? Gut, von 100 Kindern würden „nur“ 20-30 sterben und 70-80 überleben. Aber bei welcher Gruppe wird sich Olivia befinden?
Ich fahre zurück, hole das Auto in Wr. Neustadt und gehe der Bitte Erikas nach, mit einem weiteren Naturheiler aus diesem Bezirk zu sprechen.
Diesen Naturheiler kannten wir bereits seit geraumer Zeit. Der Kontakt wurde aber von uns, eigentlich mehr von meiner Seite, einseitig gelöst. Er vertritt eine Glaubensgemeinschaft, die für mich einige faschistoide Züge zu erkennen gab.
Mich störten solche Aussagen wie: „Die deutsche Sprache sei die höchstentwickelte Sprache“ und „Neger seien gegenüber Weißen in ihrer Entwicklung rückständig“. Die Hauptaussagen dieser Glaubensgemeinschaft stützten sich auf die Worte Jesu, sonst aber war sie in Opposition zur Kirche. Viele Gesichtspunkte waren auch meiner Meinung nach korrekt und bestechend in der Logik.
Aber seit meinem letzten Besuch waren Jahre vergangen und ich war sicher, dass mir der Naturheiler meinen Absprung vorhalten würde. Erika hatte meinen Besuch angekündigt. Ich wartete im Verkaufsraum, bis er sich für mich Zeit nahm.
Als er mir gegenübertrat, sah ich meine Befürchtungen sofort bestätigt.
Normalerweise hätte er mich von sich aus in sein Zimmer einen Stock höher hinaufgebeten. Jetzt machte er keine Anstalten dazu. Nicht einmal einen Sitz wollte er mir anbieten. Nun, so leicht gab ich nicht auf. Also bat ich ihn, sich doch ein wenig Zeit zu nehmen, damit ich ihm in Ruhe unsere jetzige Situation erklären könne.
Wir betraten sein Zimmer und nahmen gegenüber Platz. Viel brauchte ich ihm nicht zu erzählen. Er begann sofort mir seine Vorhaltungen an den Kopf zu schmeißen. Wir hätten nicht an ihn geglaubt! Er hätte soviel Stunden in uns investiert! Vor allem in Erikas Schuppenflechte!
Was war der Erfolg? Erika hat ihre Schuppenflechte noch immer! Unser Kind hätte Krebs und überhaupt, so meinte er weiter, müssten wir eine sehr schlechte Ehe führen. Wie sonst sei unser Schicksal erklärbar?
Ich war betroffen. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Er war früher viel verständiger und hatte anscheinend unendliche Geduld. Jetzt aber hatte ich den Eindruck, dass er sich fürchtete, mit einem erfolglosen Fall wieder einmal in die Schlagzeilen zu geraten. Er wollte uns nicht helfen. Ich fragte mich, was ich bei ihm eigentlich verloren hatte!
Tiefe Trostlosigkeit ergriff mich auf dem Weg nach Hause. In der Küche waren die Schwiegereltern und Veronika, Erikas Schwester. Ich berichtete ihnen von Olivia und dem letzten Geschehen. Tränen bemächtigten sich meiner. Auf der Stiege zu unserem Stock schaute mich Elisabeth groß an, streckte mir ihre Arme entgegen und sagte: „Bist du traurig? Aber Gott sei Dank hast Du ja noch mich!“ Ich nahm sie hoch und drückte sie ganz fest.