Kampf um krebskrankes Mädchen

Justiz sucht neue Wege

Zeit und Bürokratie lassen der krebskranken Olivia Pilhar kaum eine Überlebenschance. Die Eltern verweigern die Chemotherapie und sind mit dem Kind vermutlich in die Ostschweiz geflüchtet, nachdem ihnen die Obsorge entzogen worden war. Nun überlegt das Justizministerium Schritte, da eine Fahndung über Interpol bisher nicht möglich war. Nach Fernsehberichten, die das fortgeschrittene Stadium des Nierenkrebses zeigten, appellierten Angehörige: „Bitte, kommt zurück.“

Zeit und Gesetz gegen das Kind

Der Zustand der krebskranken Olivia hat sich dramatisch verschlechtert. Jetzt bitten die Verwandten: „Laßt sie nicht sterben!“

Susanne Mauthner-Weber
Petra Ramsauer


Die Chancen stehen noch immer 1:1.“ Ein „zutiefst verzweifelter“ Primar Olaf Jürgenssen kämpft noch immer darum, daß die Eltern Pilhar ihre Tochter Olivia zur Krebstherapie bringen. Und auch die Angehörigen des Vaters waren nach den Fernseh-Bildern erschüttert: Der Bauch der Sechsjährigen war aufgequollen. Die Patentante: „Man sah, daß sie fürchterliche Qualen leidet.“ Und weiter: „Bitte, Helmut, melde dich bei uns.“

Seit etwa einem Monat versuchen die Behörden, die Familie im Ausland ausfindig zu machen. Bisher ohne Erfolg. Warum erklärt Mag. Rudolf Masicek, der zuständige Richter am BG Wr.Neustadt: „Die Fahndung ist auf das Inland beschränkt. Es gibt eine Strafanzeige gegen die Eltern – wegen Entziehung der Obsorge.“ Wäre die Familie irgendwann an den Grenzen aufgetaucht, hätten ihr die Behörden nur auftragen können, sich innerhalb von 14 Tagen beim Jugendamt zu melden. Erst wenn sie dieser Aufforderung nicht nach kommt, könnte sie zur Verhaftung ausgeschrieben werden.

Ein gesetzliches Prozedere, das für ein todkrankes Kind möglicherweise tödlich sein kann.

Die Flucht der Familie Pilhar vor der Schulmedizin geht vorerst weiter: Nun soll das schwerkranke Mädchen in die Ostschweiz gebracht wordem sein. Michael Stormann, Familienrechtsexperte im Justizministerium, hat trotzdem noch Hoffnung: „Es gibt ein internationales Abkommen zur Verhinderung von Kindesentführung. In diesem Rahmen könnte man wahrscheinlich grenzüberschreitend etwas unternehmen. Dazu muß aber der zuständige Richter bei uns im Ministerium anfragen.“

Eine Sprecherin des Justizministeriums: „Sollte das Mädchen sterben, läge der Tatbestand der fahrlässigen Tötung vor.“

Auch den Handlungsbedarf, den Gesundheitsministerin Christa Krammer sieht, zielt auf die „Zeit danach“: Eine Neuregelung des Kurpfuscherparagraphen und möglicherweise Verwaltungsstrafverfahren gegen den Arzt Ryke Geerd Hamer seien die Konsequenzen.

Tief erschüttert zeigt sich auch der Wiener Jugendanwalt Anton Schmid: „Mich hat noch nie ein sechsjähriges Kind angerufen, um sich zu beschweren. In diesem Alter können sich Kinder noch nicht gegen ihre Eltern wenden. Auch wenn sie geschlagen werden.“ Seine Konsequenz: Kinder brauchen noch mehr Rechte.

Der Wilms-Tumor

Das sogenannte Nephroblastom – ein bösartiger Tumor der Niere – tritt hauptsächlich im Kindesalter auf, gehäuft zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr. Bei sofortiger Behandlung liegen die Heilungschancen um die 90 Prozent. Sogar im Stadium IV, wenn bereits Lungenmetastasen vorliegen, ist der Tumor heilbar. Derzeit international anerkannte modernste Behandlung: Entfernung des Tumors, Chemo– und Bestrahlungstherapie. Eine Nichtbehandlung führt innerhalb weniger Wochen oder Monate zum Tod.

Chronologie einer Tragödie

• 17. Mai 1995: Olivia klagt über Bauchschmerzen.

• 18. Mai 1995: Die Mutter, Erika Pilhar, bringt das Kind ins Krankenhaus Wr. Neustadt. Primar Olaf Arne Jürgenssen äußert den Verdacht auf einen bösartigen Tumor der rechten Niere. Die Eltern werden mit Olivia ins St.-Anna-Kinderspital geschickt.

• 19. bis 21. Mai: Untersuchungen.

• 22. Mai: Die Chemotherapie soll beginnen, um den Tumor vor der Operation schrumpfen zu lassen. Helmut und Erika Pilhar verschwinden, bevor die Behandlung anfängt, aus dem Spital. Es folgt: eine Untersuchung bei Dr. Geerd Ryke Hamer, einem deutschen Internisten, der ob seiner dubiosen „Neuen Medizin“ in Deutschland Berufsverbot hat. Er diagnostiziert eine Zyste, entstanden durch Konflikt-Situationen. Die Therapie: den Konflikt lösen.

• Anfang Juni: Primar Jürgenssen wendet sich mit dem Fall an das Bezirksgericht Wr. Neustadt.

• 23. Juni 1995: Das Bezirksgericht entzieht den Eltern die Obsorge für Olivia und überträgt sie für die Dauer der Behandlung dem Jugendamt. Die Eltern verstecken sich.

• Anfang Juli: Familie Pilhar taucht im Ausland unter, um Chemotherapie und Operation zu verhindern und das Kind „nach Hamer“ zu behandeln. Gerüchte kursieren, daß der Vater seine Geschichte an „Pro 7“ verkauft hat.

• 17. Juli: Nach einem Bericht im deutschen Fernsehen, in dem Olivia mit aufgequollenem Bauch zu sehen war, richten Primar Jürgenssen und die Verwandten der Familie einen Appell an den Vater, die Kleine nicht einfach sterben zu lassen.

„Fall Pilhar“: Medienjagd auf todkrankes Mädchen

Pro 7 wollte die Exklusiv-Rechte kaufen

Neben der Polizei sind nun auch die deutschen Medien auf den Fersen der niederösterreichischen Familie Pilhar, die mit ihrer an krebs erkrankten Tochter Olivia (6) vor der Schulmedizin flüchtet. So bot Pro 7 eine horrende Summe für die Exklusiv-Rechte der Story. Vergebens: Die Eltern dürften aus Angst, ihren jeweiligen Aufenthaltsort zu verraten, abgelehnt haben. Auch „Spiegel TV“ jagt der Familie hinterher und brachte am Sonntag in RTL ein am Chiemsee gedrehtes Interview mit den flüchtigen Eltern. Dazu der verantwortliche Redakteur, Alexander Czogalla: „Der deutsche Ex-Arzt Dr. Hamer hat, wohl aus Publicity-Gründen, den Eltern dazu geraten, aber bei uns kam er nicht gut weg. Wir hoffen aber, daß sich die Familie bald wieder bei uns meldet.“ Exklusiv soll die Berichterstattung aber nicht sein: „Da müßten alle Medien bemüht sein, die Eltern zur Vernunft zu bringen.“

fro

Plädoyer für Olivia

Gert Korentschnig

„Willkommen Osterreich“ ist nicht nur eine Runderneuerung von Wir, Wurlitzer und Was-man-alles-aus-dem-deutschen-Privatfernsehen-zusammenfladern-kann, sondern auch die Informationssendung des ORF. Am Tag eins nach Antritt der Ricardaschen Babypause erfuhr man zum Beispiel, daß . . .

  • Alexander Goebel „in diesem Land derartig viel geworden“ ist (Eigendefinition);
    die „Gesundheit aus dem Eisstanitzel“ kommt (Prof. Bankhofer);
  • Fernseh-Meteorologen gar keine sind, sondern „nur das Wetter an die Wand picken“ (Belcredi);
  • „jede Kirche ein Ufo-Landeplatz“ ist (Alien-Forscher Dipl.-Ing. Stein).

Nur eines erfuhr man nicht: den wahren Zustand der krebskranken Olivia, die von ihren Eltern aus Mißtrauen gegen die Schulmedizin aus dem St.-Anna-Kinderspital genommen worden war. Univ.-Prof. Dr. Gadner bezifferte ihre Überlebenschance im Falle einer raschen Operation mit etwa 80 Prozent.

Später verriet derselbe Arzt in der „ZiB 2“ die Wahrheit: Es sind nur noch 50 Prozent. Oder hat ihn erst das Hochner-Plädoyer wachgerüttelt? Der siedelte den Wunsch der Eltern, Olivia von einem Alternativmediziner behandeln zu lassen, „zwischen Totschlag und vorsätzlichem Mord“ an. Als Privatmann mag er diese wahnwitzige Aktion richtig einschätzen. Journalistisch war das trotzdem fahrlässige Vorverurteilung.

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