Unser Gastkommentar
Das Phänomen Dr. Hamer ist ein Zeichen der Krankheit unserer Medizin, der Universität uns unseres westlichen Systems einer einseitig rationalen, auf das Äußerliche ausgerichteten und technischen Weltsicht, meint der Rektor der Grazer Karl-Franzens-Universität, Prof. Dr. Thomas Kenner
Universität, Medizin und Dr. Hamer
von Thomas Kenner
Am 27. November 1990 hat Prof. Hans Schaefer in Graz einen wegweisenden Vortrag über das Thema „Universitätsbildung heute und morgen“ gehalten. Er hat dabei die zwei Komponenten des menschlichen Denkens und Lebens, Ratio und Emotio als Schwerpunkte einer universitären Ausbildung und Bildung angesprochen. Im ärztlichen Berufsumfeld findet sich der Aspekt dieser zwei Komponenten in den sich ergänzenden Begriffen Heilkunde und Heilkunst.
Das Unglück in der heutigen Zeit rührt daher, daß die beiden Komponenten nicht, wie es sein sollte, miteinander verbunden bleiben, sondern daß im Gegenteil eine immer größere Spannung auftritt: Auf der einen Seite finden sich die Vertreter des rationalen Denkens und der Verfeinerung der Technik, auf der anderen Seite stehen die Verfechter der menschlichen Zuwendung, manchmal etwas abfällig als jene bezeichnet, „die meinen, man komme in der Medizin mit Händchenhalten aus„. Die Vorkämpfer des „neuen Weges“ in der Reform des Medizinstudiums versuchen zu erreichen, die beiden auseinanderstrebenden Teile wieder zusammenzubringen.
Auseinanderstreben
Bei uns in Österreich befürchte ich, ist das Auseinanderstreben in vollem Gange. Unsere Kliniken werden in technischer, apparativer Hinsicht durchaus für den Spitzenbedarf eingerichtet. Die menschliche Zuwendung bietet hingegen Personen an, die sich bewußt in Gegensatz zur „Schulmedizin“ stellen. Die Zuwendung zum Patienten wird hier als Kontrapunkt und bittere Feindschaft gegen die derzeitig gültige Lehrmeinung – gegen das Lehramt – aufgefaßt. Bewußt habe ich hier den Ausdruck Lehramt angeschrieben, um anzudeuten, wie sich hier die Bilder dieses modernen Trends gleichen: in Medizin und Religion. Wir haben eine wirklich fundamentale Spaltung vor uns, die, wie die Physiologen wissen, der Funktionsteilung der beiden Gehirnhälften entspricht.
Kein Personal
Fast täglich erhalten wir in den Medien Nachrichten über Probleme der Spitäler und des Gesundheitswesens, vor allem finanzieller Art. Wenn man mit Patienten oder auch mit Studenten oder Ärzten spricht, die Einblick in unsere Kliniken haben, dann ergibt sich das Bild, daß wohl die technischen Möglichkeiten, Untersuchungsmethoden, Labors etc., dem modernsten Standard entsprechen; mit der Organisation, der Personal-, Raum- und Zeiteinteilung sieht es schon wesentlich schlechter aus. Für menschliche Zuwendung schließlich ist weder Personal noch Zeit verfügbar.
Phänomene wie Dr. Hamer, ein Arzt, der, nach seinem Buch „Vermächtnis einer Neuen Medizin“ zu schließen, nie wirklich die biologischen Grundlagen der Medizin verstanden hat, sind die Konsequenz, die ebenso wie Lainz schon lange vorherzusehen war. Dr. Hamer hat das Charisma, Patienten, vor allem unheilbare Kranke, in überzeugender Weise menschlich und persönlich ansprechen zu können, und dazu, wie erwähnt, den entsprechenden notwendigen aggressiven Ton gegen die „Schulmedizin“ zu finden. Patienten fallen darauf herein. Die Erfolge des Zuspruchs sollen nicht geleugnet werden. Die Mißerfolge infolge Verhinderung der notwendigen medizinisch-therapeutischen Maßnahmen sind tragisch und werden auch dem Verursacher voll angelastet werden müssen; sie werden dem Spektakel, auf das auch die Medien hereinfallen, irgendwann ein Ende bereiten.
Menschliche Zuwendung und Beschimpfungen der „Schulmedizin“ sind als gefährliche Kombination notwendig, um Patienten, die sich ja an ihre gewohnten Ärzte und Kliniken trotz manchmal schlechter Behandlung gebunden fühlen, loszueisen und zu binden.
Wir „Schulmediziner“ sollten uns an die Brust klopfen und mehr tun, als nur ein flüchtiges „mea culpa“ sagen. Der Trend, Zuflucht zu Sektierern, Sonderlingen und Gegnern des „Systems“ zu nehmen – wieder die Ähnlichkeit mit gleichen Trends im religiösen Bereich – , sollte zum Denken und vor allem zum Handeln zwingen.
Es reicht nicht, zurückzuschimpfen. Kritik und Klarstellung lassen sich zunächst um des erlernten und erarbeiteten Fachwissens willen nicht vermeiden. Dann aber ist zu fragen: Wie ist es an unseren Kliniken mit der menschlichen Zuwendung bestellt? Wie steht es mit der ärztlichen Sorge um die Patienten, die mit Kummer, Leiden und Schmerzen in die Ordination oder ins Spital kommen? Können wir sagen, es ist sowieso alles bestens? Können wir uns eine Medizin leisten, die mehr und mehr nur auf Technik und methodische Perfektion Wert legt und alles, was das Persönliche und Menschliche betrifft, Pfuschern überläßt?
Die Kritik an Dr. Hamer und an seine unqualifizierten Angriffen auf die „Schulmedizin“ sowie auch an seinen wissenschaftlich unhaltbaren Darstellungen ist letztlich nur eine Ablenkungsreaktion, wenn man nicht hinterfragt: Warum hat er solchen Zulauf? Mag es nicht sein, daß selbst so mancher Arzt im Falle einer eigenen unheilbaren Erkrankung eben auch dort Zuflucht sucht, wo er sich persönlich angesprochen fühlt?
Der Mangel an dieser Zuwendung im etablierten Klinikbetrieb ist weltweit! Nicht umsonst fordert Dekan Tosteson von der berühmten Harward Medical School in Boston, USA, in der wohl bekanntesten wissenschaftlichen Zeitschrift „New England Journal of Medicine„:
„Alle Ärzte müssen erkennen, daß es eine essentielle Einheit der folgenden drei Ansichten eines Menschen gibt: als lebender Organismus (erschlossen durch die Naturwissenschaft), als Mitglied der Gesellschaft (erschlossen durch die Sozialwissenschaft) und als einmalige Persönlichkeit (verständlich durch die Geisteswissenschaft).“
Tatsächlich müssen wir endlich einsehen, daß alle drei Ansichten wesentlich sind und die zuletzt genannte wegen des persönlichen Kontaktes die emotional am tiefsten eindringende ist.
Ich komme damit nochmals zum Ausgangspunkt dieses Artikels, zur „Universitätsbildung heute und morgen„. In aller Ausbildung und Bildung an den Universitäten muß es zentral um den Menschen gehen. Ganz besonders in der Ausbildung und Bildung von Ärzten.
Ich habe kürzlich einen Vortrag über Medizinstudienreformen gehalten. Im Verlaufe dieses Vortrages, in dem ich versucht habe, neue im Vorentwurf vorliegende Konzepte darzustellen, ist mir wieder einmal klar geworden, daß alle im Rahmen einer Reform geplanten Änderungen nichts bringen, wenn man nicht die „Person der Handlung„, vor allem die Lehrer, die Professoren und Assistenten und auch die von den Mittelschulen schlecht vorgebildeten Studenten, ändern kann. Reformen ohne Änderung der persönlichen Einstellung sind nutzlos. Umgekehrt könne man sich bei entsprechender Änderung der persönlichen Einstellung Reformen – wenigstens weitgehendst – ersparen! Man könne das auch so ausdrücken: Konsequente Nutzung der derzeit vorliegenden Vorschriften und gesetzlichen Möglichkeiten bei entsprechender Modifikation der persönlichen Einstellung würde revolutionäre Neuerungen ermöglichen. Welcher Art diese Modifikation sein müßte, entspricht dem, was Dekan Tosteson in seiner Darstellung der drei Ansichten des Menschen beschrieben hat.
In die verkehrte Richtung
Was derzeit bei uns geschieht, scheint mir völlig in die verkehrte Richtung zu gehen. Es wird nicht versucht, die Einstellung und Motivation der Personen zu verbessern, sondern es werden immer kompliziertere und einengendere Vorschriften erlassen, die unsere Handlungsfähigkeit immer mehr einschränken und damit den Trend zum rein rational-technischen und weg von der menschlichen Zuwendung immer mehr verstärken.
Und gleichzeitig zerfällt die Universitas litterarum, die Gemeinschaft aller Wissenschaften, und auch die Universitas magistrorum et scholarium, die Gemeinschaft der Lehrer und Studenten, unpersönlich und beziehungslos in ihre Bestandteile.
Das Phänomen Dr. Hamer sollte als Menetekel gewertet werden und zum Handeln drängen!