Hochtraumatische Erlebnisse in der Vergangenheit lassen Menschen im Falle eines neuerlichen massiven Schocks nur äußerst schwer bis gar nicht damit fertig werden. Das fand eine Wissenschaftlerin des Hadassah-Spitals in Jerusalem heraus.

von Claudia Richter

Bis vor kurzem hatte die Wissenschaft keine eindeutige Antwort auf die Frage: Wie beeinflussen vergangene Traumata die Fähigkeit des Menschen, auf neuerlichen Schock, auf schwere Krankheit oder lebensbedrohende Situationen zu reagieren? Manche meinen, erlebter schwerer seelischer Stress mache Menschen stärkter, andere behaupten das Gegenteil.

Lea Baider, Professorin für [unleserlich] der Frage nach und fand in dreijähriger Forschungsarbeit heraus: Schwerste, länger dauernde traumatische Erlebnisse – wie etwa Holocaust oder Kriegsgefangenschaft – bewirken, daß sich die Betroffenen im Falle neuerlicher schwerwiegender traumatischer Ereignisse – wie etwa Krebserkrankung – selbst aufgeben, nicht fähig sind, mit der Krankheit umzugehen.

Ziehen es vor, zu sterben

Auf Einladung der Österreichischen Hadassah-Gesellschaft kam die Wissenschaftlerin kürzlich nach Wien, über ihre Studie zu berichten. „Eine Gruppe von älteren Krebspatienten verweigerte jedwede Behandlung“. Bei ersten Nachforschungen stellte es sich heraus, daß es sich den Therapie-Verweigerern vor allem um Holocaust-Opfer handelte. „Die Reaktion auf die Spritze, der Verlust der Haare, das Erbrechen, das alles erinnerte die Patienten an die Zeit im Konzentrationslager“, sagt Baider. „Die Kranken zogen es vor, zu sterben.“

In Folgestudien wurden Personen gleichen Alters, gleicher Herkunft, gleichen Geschlechts, mit der gleichen Art von Krebs, mit der gleichen Erziehung in drei Gruppen unterteilt: Krebspatienten, die den Holocaust erlebt hatten, Krebskranke, die nie in einem KZ gewesen waren und Holocaust-Opfer ohne Krebs.

Bei früheren KZ-Häftlingen mit Krebs wird Vergangenes wieder grausam lebendig

Ergebnis: Krebs-Patienten ohne Holocaust-Trauma zeigten [unleserlich] (Ängste, Depressionen, Sorgen und so weiter), wie sie üblicherweise bei Krebskranken auftritt. Menschen mit Holocaust-Trauma, aber ohne Krebsleiden, haben die Erinnerung an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges ausgeschaltet, wollen sich nicht damit auseinandersetzen. Baider: „Ihr seelisches Streßprofil entsprach an und für sich den Normen. Das aber konnte nur dadurch erreicht werden, daß diese Menschen bestimmte Abwehrmechanismen extrem mobilisiert hatten.“

Bei ehemaligen KZ-Inhaftierten mit Krebs aber bricht die Vergangenheit plötzlich wieder auf, sie werden von Erinnerungen schier überflutet, erleben plötzlich wieder alles hautnah. Viele Patienten sprechen von einem „privaten Holocaust“.

„Die posttraumatische Streßreaktion, also die seelische Störung, die als Folge eines Traumas auftritt, war extrem“, berichtet Baider. Diese Menschen waren also extrem deprimiert, litten unter schwersten Ängsten, machten sich die größten Sorgen, wiesen ärgste seelische Verkrampfung auf.

„Wir konnten folgendes daraus schließen: Folgt dem vergangenen Trauma ein neues, in diesem Falle eben Krebs, können die Betroffenen keine zusätzlichen Abwehrmechanismen mehr aufstellen und reagieren mit extremem seelischen Distreß, der sie dann unfähig macht, eine Krankheit, eine weitere schwere Belastung zu meistern.“

Das ganz gleiche psychische Trauma-Profil (also seelischer Distreß im normalen Rahmen, erzielt durch eine extreme Mobilisierung von Abwehrmöglichkeiten), befürchtet Baider, dürften auch die Kinder der [unleserlich] gen: „Wenn deren Söhne oder Töchter etwa Krebs bekommen oder mit einer anderen lebensbedrohenden Situation konfrontiert werden, werden sie dies vermutlich auf dieselbe Art traumatisieren und ebenfalls in dieses abnorme Streßverhalten verfallen.“

Studie in Deutschland?

Die zierliche Forscherin hätte derlei Studien sehr gerne in Deutschland fortgesetzt. „Ich glaube, daß jeder Mensch, der im Krieg Schreckliches erlitten hat, egal auf welcher Seite er gestanden ist, im Falle eines Krebsausbruches nicht mit der Krankheit umgehen kann, weil er keine zusätzlichen Abwehrmechanismen mobilisieren kann.“ Bisher scheiterte der Plan der Wissenschaftlerin an der Finanzierung.

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