Am Heiligabend widerfährt einer jungen Familie in der Lüneburger Heide das Unfassbare: Ihre vierjährige Tochter stirbt ohne erkennbaren Grund
Weihnachten ist für Sighild B. das Fest der Feste schlechthin, der Inbegriff an Feierlichkeit, familiärer Geborgenheit und kindlicher Lebensfreude. Weihnachten fiebert sie buchstäblich entgegen. Dieses Jahr erfährt diese Sehnsucht eine Variante, die erst im Rückblick nachdenklich stimmt: Sighild spricht seit Monaten davon, dass sie „zum Weihnachtsmann ziehen“ wolle, der habe ein Pferd für sie. Wer legt schon Formulierungen eines vierjährigen Kindes auf die Goldwaage, das wohlbehütet – ohne Fernsehen – in einer Welt von Märchen mit Zwergen und Elfen, dem Osterhasen, Frau Holle und dem Weihnachtsmann aufwächst? Im Märchen gibt es keine unüberwindbaren Grenzen in Zeit und Raum: Warum sollte man also nicht zum Weihnachtsmann gelangen können? Man muss es sich nur fest genug wünschen.
In diesem Jahr liegen für Sighild noch zwei große Ereignisse vor Weihnachten. Das eine ist ihr 4. Geburtstag am 2. Oktober, das anderen die Geburt ihrer Schwester Ingrun am 17. November. Eine Schwester! Wie sehr hat Sighild sich eine Schwester zu ihren beiden Brüdern gewünscht! Dann gibt es seit Jahren das erste mal wieder richtig Schnee; der Schlitten wird rausgeholt, im warmen Schneeanzug eingepackt geht es hinaus in den Winter. Sighild ist selig. Nur noch wenige Tage bis Heiligabend, es ist vor Freude und Spannung kaum auszuhalten.
Der 24. Dezember 2009 ist Sighilds Todestag. In der Familie ist in den Tagen vor Weihnachten eine Erkältung umgegangen. Als Sighild sich morgens übergeben muss, nehmen die Eltern an, dass es jetzt auch ihr zweitältestes Kind erwischt hat. Sie wird im Wohnzimmer auf das Sofa gelegt und verbringt dort matt den Tag. Sie mag nichts essen trinkt aber gerne Kamillentee, einmal verlangt und bekommt sie eine Wärmeflasche. Bei Einbruch der Dunkelheit findet die Bescherung statt. Traditionell wird in der Familie B. der Teil des Raumes, in dem der Weihnachtsbaum steht, mit als Sichtblende aufgehängten Decken abgetrennt. Endlich klingelt das Glöckchen zur Bescherung. Sighild schlingt mit leuchtenden Augen ihre Ärmchen um den Hals des Vaters und wird auf seinem Arm vor den heißersehnten Weihnachtsbaum getragen. Die traditionelle Feier mit Liedern und Gedichten nimmt ihren Lauf.
Um halbacht sind ihre Geschwister im Bett. Sighild darf noch bei den Eltern im Wohnzimmer bleiben, sie liegt mit dem Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter, schaut auf den Weihnachtsbaum, zwischendurch fallen ihr immer wieder die Augen zu. Ihre Weihnachtsgeschenke liegen unausgepackt vor dem Baum, sie fühlte sich zu schwach dafür. Ihre zwar noch junge Mutter hat doch längst reiche Erfahrung mit kleinen Kindern und ihren Krankheiten. Gleich wird Sighild eingeschlafen sein, die Mutter wird sie in ihr Bett tragen, und im tiefen Schlaf wird sie Erholung und Kraft für ihre Genesung schöpfen. Doch Sighild schläft nicht ein, ganz still und gelöst hört sie auf zu atmen. Die Mutter bemerkt es zuerst: „Sighild atmet nicht mehr!“ der Vater reißt das Mädchen geistesgegenwärtig aus dem Arm der Mutter, um es am Fußboden zu beatmen. Bei der Bewegung des Kindes vom Sofa zum Boden ergießt sich ein Schwall von Tee und geronnenen Blut aus dem Mund des Kindes auf den Teppich vorm Weihnachtsbaum. Blut! Woher kommt das Blut? Zwanzig endlose Minuten beatmet der Vater das Kind, die Mutter streichelt es und spricht zu ihm, bis endlich der Krankenwagen eintrifft und Notarzt und Krankenhausärzte den Kampf um das Leben von Sighild fortsetzen, den sie doch verlieren.
Warum stirbt ein Kind? Kinder dürfen nicht sterben! Eltern und Ärzte können heute Kindern doch fast immer helfen. Warum wir? Warum unser Kind? Warum gerade jetzt?
Antje B. ist siebzehneinhalb Jahre als, als sie Theoderich im März 2004 zu Welt bringt. Geplant ist diese Schwangerschaft nicht, aber auch keine vermeintliche Katastrophe, wie sich eine heutige Gesellschaft einbildet, die das ganze menschliche Leben durchplanen will und Schwangerschaften als Regelwidrigkeiten oder gar Super-GAU betrachtet. Antje freut sich auf das Kind, und sie hat allen Grund dazu, denn der damals 22jährige Vater Baldur steht fest zu ihr, sie heiraten zwei Wochen vor der Geburt, Antje darf sich auf das erfüllte Leben einer jungen Familie freuen. Sie selbst bricht nun zwar kurz vor dem Abitur die Schule ab, aber Baldur hat eine dreijährige Ausbildung an der Landwirtschaftlichen Fachschule in Graz hinter sich und beginnt nach dem Militärdienst den Studiengang Bodenmanagement und Wasserwirtschaft an der Fachhochschule Nordostniedersachsen in Suderburg.
Im Oktober 2005 kommt Sighild zur Welt, das Familienglück erhält ein neues Sahnehäubchen. Sighild hat es besonders eilig. Schon mit fünf Monaten beginnt sie sich aufzurichten, mit elf Monaten kann sie laufen, bald auch sprechen. Sie scheint es darauf abgesehen zu haben, ihren älteren Bruder einzuholen. Immer öfter werden beide für Zwillinge gehalten, weil Sighild ihren zierlichen Bruder körperlich bald überrundet.
Mit zwei Jahren tritt eine Zäsur ein. Antje ist jetzt mit Heinrich schwanger und spricht einmal mit ihrer Hebamme über Veränderungen, die sie an Sighild feststellt. Das bis dahin eher „moppelige“ Kind nimmt stark ab und hat ein dauerndes Trinkbedürfnis. Ein kurzfristig durchgeführter Test ergibt: Sighild hat Diabetes. Antje und Baldur sind ratlos. Wie kann ein Kind Diabetes haben, dessen Eltern so sehr auf gesunde Ernährung achten? Antje ist Vegetarierin und achtet auf ausgewogene, vollwertige Speisen für ihre Kinder. Kann man noch mehr tun? Die Eltern nehmen ihr Schicksal an. In einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt werden Sighilds Insulinwerte eingestellt. Fortan bekommt das Kind zweimal täglich Insulinspritzen, außerdem müssen mehrmals am Tag die Blutzuckerwerte gemessen werden. Kein schöner Start ins Leben für eine Zweijährige. Aber Sighild mit ihren sonnigen Gemüt und ihrer starken Lebenskraft trägt diese Last klaglos. Ihre Ernährung muss genau beobachtet werden, damit ihre Insulindosen darauf abgestimmt werden können. Haben Baldur und Antje jetzt ein chronisch krankes Kind? „Das haben wir nie so empfunden. Sighild hat es uns leicht gemacht, hat nie versucht, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Auch für sie selbst spielte die Krankheit keine große Rolle.“
Die Technik der Spritzen ist heute mit hauchdünnen Nadeln weit fortgeschritten, schmerzhaft ist das nicht mehr, eher lästig. Po, Oberschenkel, Schultern akzeptiert Sighild als Einstichstellen, nur den Bauchbereich verweigert sie. Auch die winzigen Blutstropfen, die ständig zur Blutzuckeranalyse gebraucht werden, lässt sie an den Fingern zu, nicht jedoch am Ohrläppchen. Der Alltag normalisiert sich schnell. Nur in einer Hinsicht behält Sighild eine Sonderrolle: Ihr Bruder Theoderich darf auch mal ein paar Tage zu Tante oder Onkel zu Besuch. Doch die Verantwortung für die richtige Behandlung von Sighild mögen die Eltern ihren Geschwistern nicht aufbürden. Daher ist sie nur dreimal in ihrem kurzen Leben für wenige Tage alleine bei ihren Großeltern gewesen. Sonst ist sie ständig – viermal 365 Tage und danach noch mal 83 Tage – mit ihren Eltern zusammen, immer, tagsüber, nachts, jeden Tag.
Jetzt ist sie fort. Sighild ist tot. Da ist unermessliche Leere. Kann man das der Mutter erklären? Versteht sie das durch den Nebel in ihrem und um ihren Kopf, der ihr immer noch das Denken schwermacht? Welch absurde Frage. Wie sollte man das verstehen können? Wie könnte es für das Sinnlose eine Erklärung geben? Schon die Frage ist falsch. Die richtige Frage muss lauten: Wie kann eine Mutter das eigentlich aushalten? Das alles, was an Heiligabend, aber auch an den Tagen danach immer weiter, immer weiter an Schlägen auf sie einprasselt?
Als der Notarzt eingetroffen, der leblose Körper von Sighild mit Spritzen und Infusionen traktiert worden ist, setzt der Herzschlag wieder ein. War der Puls nicht vielleicht doch die ganze Zeit über, wenn auch nur ganz schwach, zu spüren gewesen? Eine Verwandte ist mit im Haus, deshalb können beide Eltern ihr Kind ins Klinikum von Uelzen begleiten. Die Ärzte dort entscheiden, Sighild noch in der Nacht in die Medizinische Hochschule nach Hannover zu verlegen. Nur Baldur fährt im Krankenwagen mit, Antje kehrt nach Hause zurück, denn ihr Säugling muss gestillt werden. Aber an Tod denkt die junge Mutter nicht. Jetzt ist das Kind doch in ärztlicher Hand? Sorge und Zuversicht stehen jetzt nebeneinander.
Umso grausamer der Anruf am Vormittag des 1. Weihnachtstages. Antje soll nach Hannover kommen, die Apparate, die Sighilds Herz immer noch schlagen lassen, sollen abgeschaltet werden, das Kind ist hirntot. Jetzt wird Antje bewusst, dass ihre Tochter bereits am Vorabend auf ihrem Schoß am Weihnachtsbaum gestorben ist, dass alle Maßnahmen danach vergebliche Versuche waren, dem bereits toten Körper wieder Leben einzuhauchen. Und nun fährt Antje nach Hannover, um das Kind ein zweites Mal auf ihrem Arm sterben zu lassen. Wie kann ein Mensch das aushalten? Antje hebt Sighild aus ihrem Krankenbett, ein körperwarmes, ein atmendes Kind, mit seinem lieblichen, vertrauten Gesicht.
Lange drückt sie es an sich, und dann nickt sie, und jetzt wird die Maschine abgestellt, die das Kind atmen lässt. Eine Weile langt spürt die Mutter noch den Herzschlag ihrer Tochter. Den hatte sie schon oft gespürt, als sie Sighild noch unter ihrem Herzen trug, dann ganz intensiv in der langen Zeit des Stillens, und später immer wieder, wenn das Mädchen sich an die Mutter schmiegte und Kummer, Schmerz und Freude mit ihr teilte. Wie eine am Weihnachtsbaum verlöschte Kerze erstirbt der Herzschlag. Jetzt ist der Tod unwiderruflich eingetreten.
Baldur will keine fremde Hilfe. Er bittet die Ärzte, die Schläuche zu entfernen. Dann wäscht er selbst seine Tochter. Antje kämmt ihr die Haare. Und dann kommt der unerträglich schwere Schritt, wegzufahren und das tote Kind zurückzulassen.
Im Jahr zuvor ist Antjes Großvater gestorben. Er liegt auf der Ahnenstätte Hilligenloh bei Bremen. Dort soll auch Sighild beigesetzt werden. Der Bestatter von Antjes Großvater ist ein patenter Mann; ihm gelingt es, am 26. Dezember in der Medizinischen Hochschule die nötigen Unterschriften zu erlagen, um Sighild überführen zu können. Am 2. Weihnachtsfeiertag ist sie wieder zuhause. In einem kleinen Raum, der direkt an das Wohnzimmer grenzt, wird das Kind im offenen Sarg aufgebahrt. Tut man sich das an, mit zwei Kindern, die fünfeinhalb und zwei Jahre als sind und einem sechs Wochen alten Säugling? „Anders wäre es nicht auszuhalten gewesen“, sagt Antje. „So konnten wir nach den schrecklichen Sterbeumständen in Ruhe Abschied nehmen.“ Das tun sie ausgiebig. Vor allem der kleine Heinrich öffnet alle paar Minuten die Tür zum Zimmer, schlüpft hinein und küsst und streichelt seine tote Schwester. Gleich neben dem Sarg steht ein kleiner Spielherd aus Holz. Eifrig kocht Heinrich hier immer wieder Gerichte für seine stumme Schwester. Für ihn geht kein Schrecken von dem kalten, leblosen Körper aus.
Drei Tage lang bleibt Sighild bei ihren Geschwistern und Eltern im Angesicht des so heiß herbeigesehnten Weihnachtsbaumes, an dem jeden Tag die Kerzen entzündet werden, wenn die Familie sich zusammensetzt und Weihnachtslieder singt.
Am 28. Stehen unangemeldet Vertreter des Jugendamtes vor der Tür und verlangen die ärztliche Untersuchung der drei anderen Kinder. Wieder solch ein Schlag. Unausgesprochen steht der Verdacht im Raum, die Eltern könnten Mitschuld am Tod ihres Kindes tragen. Deutet die „ungebührlich“ hohe Zahl von vier Kindern und das junge Lebensalter der Mutter nicht auf bedenkliche soziale Verhältnisse hin? Am selben Abend holt der Bestatter das tote Kind ab, für den Folgetag ist die Beerdigung geplant. Erneut müssen die Eltern sich von dem geliebten Mädchen losreißen. Noch ganz benommen sitzen sie im Wohnzimmer beieinander, als das Telefon klingelt. Polizei ist am Apparat und teilt den entsetzten Eltern mit, dass die Staatsanwaltschaft die Obduktion des Kindes angeordnet hat. Das Fahrzeug des Bestatters ist angehalten und zum Klinikum Uelzen umgeleitet worden, ein eigens einbestellter Pathologe ist bereits eingetroffen und hat mit der Obduktion begonnen. Die dauert bis 23 Uhr, dann darf der Bestatter das Kind nach Hilligenloh überführen. Antje laufen die Tränen umgehemmt über die Wangen, wenn sie über die Obduktion spricht: „Total geschändet haben sie mein Kind.“ Die junge Mutter war darauf völlig unvorbereitet gewesen, hatte sich jetzt nur noch Frieden für das Kind und für ihre eigene geschundene Seele gewünscht – und nun „scheiden sie mein Kind auf“.
Die Beerdigung ist weniger eine Feier für die Hinterbliebenen als eine Feier für Sighild. Befreundete Familien haben auch ihre Kinder mitgebracht. Jetzt führen sie die alten Kreisspiele auf, die Sighild am meisten geliebt hat: „Birnentanz“, „Ein König ging spazieren“, „Wir öffnen jetzt das Taubenhaus“. Und Sighild liegt in ihrem Lieblingskleid, in dem blau-weißen, in ihrem Sarg. Die Familie musiziert, Baldurs Bruder Godwin hält die Ansprache. Woher nimmt Antje nur die Kraft, selber ein Gedicht zu sprechen? Dann singen sie gemeinsam Sighilds Lieblingsweihnachtslieder „In den heiligen Nächten“ und „Hohe Nacht der klaren Sterne“. Danach legen die Kinder viele kleine Gaben in den Sarg, und eine der Großmütter, Antjes Mutter, legt eine Sperrholzsonne hinein, die sich Sighild im Sommer beim Theaterspielen so sehr gewünscht hatte. Und dann müssen sie den kleinen Sarg verschließen und in die Grube hinunterlassen, die Sighilds Großvater und einige ihrer Onkel eigenhändig ausgehoben haben, weil sie auch die Arbeiten auf diesem letzten Weg nicht in fremde Hände geben wollten. Am nächsten Morgen liegt frischer Schnee auf dem kleinen Hügel mit den bunten Blumen.
Wir sitzen zusammen im Wohnzimmer, es ist Mitte Januar, der große, schlicht geschmückte Weihnachtsbaum steht immer noch. Selbst wenn man seine Zweige durch die Finger gleiten lässt, lösen sich keine Nadeln. Es ist, als wolle er nicht loslassen, sondern immer an diesem Platz verharren. Kann von irgendwoher Trost kommen? Antje muss sich um ihre drei Kinder kümmern, die Pflicht treibt sie vorwärts. Baldur hat sein Büro im Obergeschoß des Wohnhauses, auch ihn treiben Pflichten. Und doch trauern beide sehr verschieden. Baldur plant und telefoniert. Als Konsequenz aus dem Verlust seines Kindes will er die Familie näher zusammenbringen, spricht mit seinen Geschwistern über gemeinsame Ansiedelungspläne. Seine Trauerarbeit ist wortreich. Antje dagegen ist stumm vor Leid. „Manchmal wache ich auf und denke für einen Moment, dass Sighild noch lebt.“ Man ahnt die tausend Abschiede, die die junge Frau gerade durchlebt und die ihr noch bevorstehen. Und die Geschwister? Der kleine Heinrich nimmt immerzu Fotos von der Wand oder greift nach einem Medaillon am Hals seiner Mutter. Sprechen kann er bisher nur einzelne Silben, umso lebhafter zeigt er auf Sighild auf den Bildern und freut sich.
Was mag in dem fünfeinhalbjährigen Theoderich vorgehen, der im Sommer eingeschult werden soll? Er hat mit Sighild zusammen in einem Doppelbett geschlafen. In dem Kinderzimmer haben er und seine Schwester oft stundenlang gespielt. Bis vor einem halben Jahr waren diese Spiele von ihm dominiert, seither hatte Sighild mächtig Selbstvertrauen gewonnen. Jetzt weigert er sich, alleine in dem Bettchen zu schlafen. Im Moment ist die ganze Familie nachts im Elternschlafzimmer vereint. Wenn der Mutter wieder die Tränen über die Wangen laufen, beteuert Theoderich tapfer, dass er „gar nicht so sehr traurig“ sei. Welch ein seelischer Kraftakt. Dieses von seiner Schwester schmerzhaft amputierte Kind versucht die Mutter zu trösten, indem es sich selber die Tränen versagt. Wie erklärt man das alles den Kindern? Wo ist Sighild? Jetzt lächelt die Mutter durch ihren Schleier von Trauer. Das wissen die Kinder ganz genau: Beim Weihnachtsmann natürlich, um mit ihm wird sie nächstes Jahr wiederkommen. Und bei Frau Holle. Der hilft sie beim Schütteln der Betten, deshalb haben wir dieses Jahr so viel Schnee.
Ein Kind stirbt. Kann das irgendeinen Sinn ergeben? Ist da ein Gott? „An das Schicksal glaube ich schon“, sagt Baldur. Noch ist das Ergebnis der Obduktion unbekannt, „multiples Organversagen“ lautet die vorläufige Diagnose. Aber ein Zusammenhang muss da einfach sein: Ein Kind wünscht sich, zum Weihnachtsmann zu ziehen, und sein Körper unterdrückt die unerkannte, lebensbedrohende Krankheit bis zum Heiligen Abend. Ganz still und schmerzlos geht es dann hinüber. Woher wird Antje die Lebenskraft nehmen, um aus ihrem Säugling ein fröhliches Mädchen zu machen, wie Sighild es war? „Wir waren eine wunderbare, glückliche Familie“, sagt sie. Die Fotos in dem dicken blauen Album bestätigen es. So viel Glück schenken Kinder, so viel Freude bereitet Familienleben! Darf man sich jetzt im Schmerz verlieren? Hieße das nicht, das Glück geringzuschätzen, das dieser kleine Mensch seiner Familie vier Jahre lang geschenkt hat? Wie die Sonne auf ihrer Bahn, erst langsam und flach, dann hochaufsteigend zum Mittsommer hat Sighild Geschwister, Eltern und Großeltern mit ihrer Lebensfreude beschienen – um schließlich „in den heiligen Nächten“ still zu verlöschen. Kann man jemals wieder Weihnachten feiern, wenn einem am Heiligabend ein Kind gestorben ist? „Wir freuen uns schon jetzt drauf“, flüstert Antje leise, „denn dann wird Sighild wieder ganz nahe bei uns sein.“
Anmerkung von H. Pilhar
Fünf Jahre später, Februar 2015, wird dieser Fall von der Justiz neu aufgerollt und die Eltern werden zu einer bedingten Haft verurteilt (Insulin-Prozess Hannover).