Am nächsten Morgen nach dem Frühstück berieten Dr. Hamer und ich unser weiteres Vorgehen in seinem Zimmer.

Mehrere Telefonate mit verschiedenen Medien wurden geführt. Der Andrang war groß. Per Telefon gab ich ein Interview an die „orf“-Nachrichtensendung „zib“. Ein Telefonat mit dem Chef von der Zeitschrift „news“, Herrn Fellner, warf mich aber fast um. Er eröffnete mir, dass die „Österreichische Flugambulanz“ mit der Ärztin Frau Dr. Markovic und einem Onkologen aus dem St. Anna-Kinderspital, Dr. Witt, nach Malaga kommen werden, um uns nach Wien zurückzufliegen. In einem von der Zeitung gechartertem Flieger werde das „news“-Team mit meinem Freund Sepp D., meiner Schwägerin Veronika und unserem Hausarzt Dr. Grill ebenfalls nach Malaga kommen.

Wir wollten nicht nach Wien zurück! Was sollte der Riesenaufwand, die „Österreichische Flugambulanz“ mit zwei Ärzten einzuschalten? Ich wollte nicht! Ich war der Verzweiflung nahe. Schließlich gelang es Dr. Hamer und den im Zimmer anwesenden Ärzten, mich wieder zu beruhigen. So leicht könne man uns nicht gegen unseren Willen in den Flieger nach Österreich verfrachten.

Des Öfteren ging ich in die Hotelhalle hinunter, um zu sehen was sich dort abspielte. Pflughaupt und seinem Kollegen wich ich nach Möglichkeit aus. Diese schienen aber mein, ihnen ausgesprochenes Filmverbot zu respektieren und ließen mich auch in Ruhe. Nur an Dr. Hamers Zimmer klopften sie im Stundenintervall und forderten ihn laut rufend auf, sich einem Interview zu stellen.

In der Hotelhalle hatten sich aber mittlerweile auch andere Reporter und ganze Fernsehteams versammelt. Diesen gab ich bereitwillig Auskunft über unsere missliche Lage. Im Laufe des Nachmittages waren plötzlich wieder die Männer von Interpol da! Mit ihren sockenlos getragenen Weichlederschuhen, saßen sie breit auf einer Couch, direkt vor dem Hoteleingang, gerade so, als wollten sie kontrollieren, ob ich das Hotel auch ja nicht verlasse. Wieso waren sie eigentlich schon wieder da? Waren sie wirklich als Wache abkommandiert worden? Ich machte die Probe aufs Exempel und schritt durch die Hoteltüre. Sofort waren sie aufgesprungen, hielten mich am Arm fest und wiesen mich wieder in die Halle hinein. Ich hatte Hausarrest. Erklärungen konnten sie mir keine geben, da sie der Sprache Englisch und ich der spanischen Sprache nicht mächtig waren.

Zurück in Dr. Hamers Zimmer, dauerte es nicht lange bis es an der Tür klopfte und mich die Interpolmänner aufforderten mitzukommen. Als wir nicht sofort Anstalten machten deren Wunsch Folge zu leisten, wurden sie ungehalten und erklärten, Gewalt anzuwenden.

Unter Blitzlichtgewitter und laufenden Kameras wurden wir aus dem Hotel abgeführt und wieder in das Gerichtsgebäude gebracht. Die Presse folgte uns hektisch.

Zweite Festnahme durch Interpol:

Den Polizisten der Interpol war es anscheinend selbst peinlich, schon wieder unsere Familie festnehmen zu müssen. Sie gaben vor, ein weiteres Fax aus Österreich erhalten zu haben, das aber mit dem Ersten nichts zu tun hatte (?!).

Ich wurde abgeführt und ins Gericht gefahren. Im Gerichtsgebäude stellte man mich vor einen neuen Richter, diesmal eine Richterin. Ein älterer Herr, der gut Deutsch sprechen konnte und ebenfalls im Gerichtssaal anwesend war, forderte in scharfem Ton Auskunft von mir. Ich vermutete, dass er ein Dolmetscher war. Er wollte wissen wo mein PKW war, wie wir nach Spanien kamen, vor allem aber wo sich Olivia befände. Was interessierte ihn mein geborgter Renault, fragte ich mich verwundert und erklärte ihm, dass dieser vor dem Hotel stehe. Erst als er erstaunt nachplapperte, mein grüner Audi stehe vor dem Hotel und wir seien mit ihm nach Spanien gekommen, verstand ich welchen Wagen er meinte und klärte ihn auf.

Sein Ton gipfelte in unverhohlenen Beleidigungen. Erst als ich ihn fragte, wer er überhaupt sei, stellte sich heraus, dass es sich bei diesem Herrn um den österreichischen Konsul, Herrn Esten, handelte. Konsul Esten warf mir vor, am Vortag gelogen zu haben. Ich hätte behauptet, ich wäre im Besitz der Obsorge, was sich erst jetzt als falsch herausgestellt habe. Deshalb sei der Gerichtsbeschluss vom gestrigen Tag ungültig und wurde widerrufen. Ich dementierte auf das Heftigste und hatte plötzlich große Angst, dass hier ein fingierter Prozess stattfinden sollte. Vorerst war ich bei der Behauptung geblieben, Erika sei mit den Kindern am Strand spazieren und werde erst gegen Abend zurückkommen. Erst später erklärte ich, warum ich mich entschlossen hatte, meine Familie nicht im Hotel übernachten zu lassen.

Ich wurde gezwungen mit mehreren Beamten und dem Konsul, verteilt in zwei Polizeiautos, zu meiner Familie zu fahren. Gefolgt wurden wir von mehreren Autos der spanischen Presse. Die Polizei versuchte diese mit mehreren missglückten Tricks abzuhängen. An einer der Kreuzungen mussten wir anhalten, ein Pressewagen hielt in zweiter Spur direkt neben unseren. Sofort brachten sie durch deren offenes Fenster ihre Kamera in Position und filmten unseren Wagen. Durch mein offenes Fenster bedeutete ich ihnen, dass sie noch ca. 1000m auf dieser Straße zu fahren hätten. Der neben mir im Fond sitzende Polizist drückte auf den elektrischen Fensterheber und verschloss mein Fenster. Die Pressefritzen hielten sich gut, doch plötzlich bogen sie ohne ersichtlichen Grund einfach ab und waren weg. Vermutlich wollten sie die Festnahme der Familie nicht gefilmt haben.

Unser Apartment befand sich zu ebener Erde. Ich ging auf das große vergitterte Wohnzimmerfenster zu und sah Olivia im Bett liegen und Elisabeth spielen. Erika war gerade in der rückwärtigen Küche beschäftigt. Mit Tränen in den Augen klopfte ich an die Scheibe und Elisabeth rief laut und freudig: „Papa!“ Einer der Polizisten, der diese Szene mitbekam, fasste mich eher freundschaftlich an der Schulter und geleitete mich durch die von Erika geöffnete Tür.

Als alle Personen, einschließlich des Konsuls, in der Wohnung waren, fingen sie zu diskutieren an. Ich hatte den Eindruck, dass ihnen diese Festnahme absolut unangenehm war. Schließlich wurden wir alle zurück in das Gerichtsgebäude gebracht, wo bereits wieder die Journalistenhorde lauerte.

Im Gerichtsgebäude war der Tumult perfekt. Alles lief durcheinander. Wir wurden von einigen Beamten streng bewacht, von anderen wie Außerirdische bestaunt, andere wiederum schenkten uns ein mitleidiges Lächeln. An den Türen und Fenstern des Gebäudes lauerten die Pressefritzen. Viele filmten gleich durch die mit Gittern versehenen Fenster.

Plötzlich stand vor mir im Gerichtsgebäude mein Freund Sepp! Dankbar nahm ich seinen Beweis echter Freundschaft an. Er war mit den Reportern der Zeitschrift „news“ angekommen. Erikas Schwester Veronika und unser Hausarzt Dr. Grill, der ebenfalls mitgekommen war, wären in einem Spital der Stadt Malaga, weil ein Gerücht umging, eventuell seien wir dort anzutreffen.

Die „Österreichische Flugambulanz“ mit Frau Dr. Marcovich sollte ebenfalls bereits gelandet sein. Diese Ärztin, aber auch Begleitpersonal und ein Onkologe aus dem St. Anna-Kinderspital kamen kurze Zeit später.

Jetzt war das Gerichtsgebäude zum Bersten voll und alle redeten durcheinander. Olivia ging vor Müdigkeit bereits in die Knie. Arme Olivia!

Frau Dr. Marcovich erklärte, von ihrem Auftrag nicht gerade begeistert zu sein, und sie werde uns auf keinen Fall gegen unseren Willen nach Wien mitnehmen lassen.

Der Onkologe, Dr. Witt, war da anscheinend anderer Meinung. Er lief mir regelrecht nach und verlangte nach einem Gespräch unter vier Augen. Er ging mir fürchterlich auf die Nerven. Was wollte dieser Knilch in Weiß? Wollte er uns gut zureden und uns die Chemo doch noch schmackhaft machen?

Endlich schenkte ich ihm meine Aufmerksamkeit, ging aber sogleich verbal auf ihn los mit der Frage, ob er sein Kind einer Chemo aussetzen würde. Er blickte zu Boden und sofort konterte ich nach, er solle nicht zu Boden blicken, sondern mir in die Augen schauen. Nochmals wiederholte ich meine Frage. Er wurde plötzlich rot und brachte aber kein Wort hervor. Das genügte mir, er brauche mir keine Antwort mehr zu geben, denn er habe meine Frage soeben zur Genüge beantwortet, stellte ich fest und ließ ihn in seiner Verblüfftheit stehen. Dr. Hamer, der das Gespräch mitgehört hatte, schüttelte sich vor Lachen.

Irgendwann wurde Erika zum Telefon verlangt, da der Bundespräsident mit ihr persönlich sprechen wollte! Ruhe war aber kaum durchzusetzen und so bekam ich nicht viel von dem Gespräch mit, außer dass uns Straffreiheit bei Rückkehr zugesichert wurde.

Ich muss ehrlich gestehen, dass ich nicht alle Varianten an nun ersonnenen Lösungsvorschlägen verstand, mitbekam oder auch im Kopf behielt.

Herr Konsul Esten machte einen Termin mit Herrn Dr. Calvo, Onkologe der Kinderklinik in Malaga, für kommenden Tag aus. Es wurde aber von uns verlangt, noch an diesem Tag dort zu einem Vorgespräch zu erscheinen.

Frau Dr. Marcovich setzte folgendes Schreiben im Gerichtsgebäude auf:

Telefonische Rücksprache mit Prof. Gadner

20.7.95, 18:30/ Dr. Marcovich

Nachdem die Eltern eine Rücktransferierung ihres Kindes nach Wien strikt ablehnen und eine solche nur unter Einsatz von Polizeigewalt durchgeführt werden könnte, hält Prof. Gadner ebenso Frau Dr. Marcovich einen Verbleib der Familie Pilhar in Spanien für die bessere Lösung.

Allerdings muss dieser Verbleib in Spanien unter schulmedizinischer Verantwortung der Universität Malaga / Kinderabteilung / Prof. Calvo erfolgen.

Weiters erklärt sich Herr Prof. Gadner bereit, mit den österreichischen Behörden Kontakt aufzunehmen, um ein weiteres gerichtliches Vorgehen der Behörden gegen die Eltern hintanzuhalten.

Unterzeichnet: Dr. Witt, Dr. Marcovich, Erika u. Helmut Pilhar


Wir wurden in dieses Krankenhaus gebracht. Es muss erwähnt werden, dass sämtliche unserer Schritte von unzähligen Kameras gefilmt und wir von Dutzenden Reportern bedrängt wurden. Wir kamen immer mehr zur Überzeugung, dass es niemandem, keinem Schulmediziner, keiner Behörde, keinem Journalisten darum ging, dem Kind eine optimale Bedingung zur Heilung zu verschaffen sondern vielmehr darum, dass nicht sein kann, was nicht sein darf!

Der Besuch im dortigen Krankenhaus war eine Farce. Seltsamerweise war kein kompetenter Arzt erreichbar. Mit dem Pflegepersonal wurde vereinbart, am nächsten Tag wiederzukommen. Und wieder die Journalisten. Es erschien als wäre dies nur ein geplanter und inszenierter Auftritt gewesen, womöglich nur um der Presse die Schlagzeile: „Endlich, Olivia im Krankenhaus!“ zu liefern.

Zurück im Hotel hatte ich mit dem völlig verstörten Hotelchef zu tun. Seine Hallen waren voller Journalisten und er beklagte sich bei mir, dass ich ihn zuvor wenigstens um Filmerlaubnis hätte bitten sollen. Achselzuckend versuchte ich ihm verständlich zu machen, dass ich all diese Menschen nicht gerufen habe. Der Portier schüttelte überhaupt nur mehr den Kopf. Zweimal durch die Interpol verhaftet und zweimal wieder innerhalb von Stunden freigelassen und noch dazu mit drei Kindern, so etwas hatte er noch nicht erlebt!

tagebuch lagebesprechung

Abends nach der 2. Verhaftung:

Lagebesprechung und Pressekonferenz

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