Erika blieb also von der Schule zu Hause. Ich fuhr wie jeden Tag zu meinem Arbeitsplatz nach Wien. Um ca. 14:00 Uhr erhielt ich einen überaus besorgten Anruf von Erika, dass mit Olivia etwas nicht stimme, und ich müsse sofort nach Wr. Neustadt kommen. Näheres wollte Erika mir am Telefon nicht sagen.

Ich war entsetzt und hatte dunkle Vorahnungen. Ich ließ alles stehen und liegen und machte mich sofort auf den Weg. Während der Bahnfahrt überlegte ich fieberhaft, wie dies alles einzuordnen sei. Woran sollte Olivia leiden, was sollte ihr geschehen sein?

Schließlich verfiel ich darauf, Olivia könnte von einem Unhold vergewaltigt worden sein. Sollte dies vor Monaten geschehen sein, so hätte ich mir Olivias Schmerzen im Bauch und ihre Angst, von der Mutter verlassen zu werden, erklären können. Aber wer sollte hierfür in Frage kommen? War es vielleicht sogar ein guter Bekannter oder Verwandter? Ich rotierte und konnte die Dauer der Bahnfahrt kaum ertragen.

Endlich stieg ich in Wr. Neustadt aus dem Zug aus und sah kurz darauf Erika mit Olivia vis-á-vis am Bahnhofsgebäude auf mich warten. Olivia winkte mir zu, und ich beruhigte mich sofort. So arg konnte es schon nicht um Olivia stehen, dachte ich mir. Endlich gelangte ich bei den beiden an und bestürmte sofort Erika mit Fragen, ohne Olivia aus den Augen zu lasen, als hätte ich an ihrem Verhalten irgendein Indiz für ihre Krankheit erkennen können.

Erika wollte nicht vor dem Kind sprechen. Für mich war die Situation kaum erträglich. Was war los? Erika machte keinen guten Eindruck auf mich. Irgendetwas bedrückte sie sehr. Ich musste mich gedulden, bis wir an unser Auto gelangten und Olivia in den Fond stieg. Da erst flüsterte Erika mir zu, woran Olivia leide. „Ein Tumor!“, erklärte Erika. Olivia hätte an der Niere einen Tumor im Stadium II. Olivia hat Krebs.

Olivia hat Krebs!
Olivia hat Krebs!!
Olivia hat Krebs…

Das verspürte Gefühl ist nur mit absoluter Leere zu beschreiben. Bodenlose Leere. Erika erklärte weiters, es handle sich um einen sogenannten Wilmstumor, und Olivia müsse nun in das St. Anna-Kinderspital gebracht werden, wo er so schnell wie möglich entfernt werden würde. Eine Chemotherapie werde angeschlossen.

Wir standen am Heck des Autos. Olivia saß im Fond und sah uns nicht. Ich starrte auf ihren Hinterkopf. Wusste das Mädchen, welche Krankheit es hatte? Konnte sie das überhaupt begreifen? Sie ist ja noch viel zu jung dazu und hat dafür überhaupt keinen Begriff! Mein Gott, dachte ich, warum gerade unsere Olivia? Erika weinte. Ich war vollkommen benommen. Was tun?

Erika fasste sich und wollte vor Olivias Überstellung ins Krankenhaus unbedingt den Rat eines bekannten Naturheilers einholen. Also machten wir uns auf den Weg. Olivia saß, ihrer Art entsprechend, ruhig hinter uns und betrachtete die Gegend. Ich fuhr extrem langsam, ohne dies überhaupt zu wollen. So als wollte ich die Zeit aufhalten.

Beim Naturheiler angekommen, stiegen wir gemeinsam aus dem Auto. Erika besprach sich mit ihm in seinem Büro. Olivia und ich warteten vor seinem Bauernhof. Plötzlich und erst so spät brach ich in Tränen aus. Warum gerade unsere Olivia? Wird sie nun sterben müssen? Wie viel Zeit haben wir noch gemeinsam zu verbringen? Es war so unerträglich!

Erika kam zurück. Sie war frustriert, das war sofort erkennbar. Der Naturheiler könne wegen der Dringlichkeit nur mehr zur Chemotherapie begleitend helfen. Eine rein alternative Behandlung von Olivia lehnte er ab.

Wir machten uns auf den Weg. Vorerst nach Hause. Großvater reparierte gerade wieder an einer Maschine herum. Er lag darunter und als er mich bemerkte, bat er mich doch, an der Ratschenverlängerung einmal anzupacken. Ich packte an. Nach ein paar Zügen an dem Hebel eröffnete ich ihm unumwunden, dass Olivia Krebs habe. Keine Reaktion. Ich ließ ab von der Ratsche. Großvater kam kreidebleich unter der Maschine hervor. Später meinte er mir gegenüber, ich hätte ihm damals diese Nachricht nicht so brutal mitteilen dürfen, er hätte fast einen Herzinfarkt erlitten. Und wirklich, seit damals war Großvater ein anderer Mensch. Für mich ist er ein typischer Kärntner. Stur, eigenwillig, seine eigene Meinung verteidigend, aber auch Verantwortung tragend und ehrlich.

Großmutter realisierte die Krebsdiagnose eigentlich nicht. Vor acht Jahren musste sie wegen eines Blutgerinnsels am Kopf operiert werden. Seit damals ist ihr Kurzzeitgedächtnis lückenhaft, was aber nicht heißen soll, dass sie unzurechnungsfähig ist. Sie ist anders, man muss mit ihr umgehen können. Oft wird man durch sie innerhalb von Minuten mit immer derselben Frage belästigt.

Sie vergisst einfach, dass sie dies schon mehrmals erfragt hat. Sonst ist sie aber lieb und fürsorglich. Sie war sicherlich früher eine gleich gute Mutter wie heute Erika eine ist.

Wir packten für den Spitalsaufenthalt. Die Welt erschien mir wie durch einen dumpfen Nebel. Im St. Anna-Kinderspital in Wien angekommen, mussten wir zuerst die formellen Modalitäten erledigen. Versicherungsnummer, Geburtsdatum, Name, Wohnort. Wie schreibt man die Anschrift genau? Ihre Adresse hat keinen Straßennamen? Wie soll das eingegeben werden? Dieses Programm sieht nicht zwei Namen für eine Ortsbezeichnung vor!

Mein Kind hat Krebs, aber ohne vorhergehende Erfüllung der bürokratischen Erfordernisse hat man keinen Anspruch auf Behandlung! Endlich kommen Ärzte. Gott sei Dank weibliche, die sind im Allgemeinen umgänglicher. Aber wieder: Zuerst die Erfüllung der Bürokratie! Es muss zumindest einen Bogen geben, der auszufüllen ist. Gewicht, Alter, Probleme bei der Geburt? Überall dasselbe.

Anscheinend egal, ob man mit einem gebrochenen Finger oder mit Krebs in eine Klinik eingeliefert wird. Endlich geht es an die Voruntersuchung. Bauchabgreifen. Tut das weh? Oder das? Und hier? Wie war der Stuhlgang? Wie lange hat sie das schon? Auskleiden, ankleiden.

Wir werden aufgenommen. Erika wird bei Olivia nächtigen. Wir gehen in den gegenüberliegenden Trakt der Internen. Es ist bereits ca. 19:00 Uhr und anscheinend bereits Beginn der Bettruhe. Ein Zimmer wird uns zugewiesen. Ein Zimmer mit zwei Betten und Fernseher. Ein Fernseher ist unumgänglich und auf solch einer Station die Beruhigungsdroge der Kinder schlechthin. Gelegentlich sehen wir die kleine Pia auf ihrem Dreirad durch die Gänge flitzen. Sie ist ein „chemotherapiertes“ Kind.

Oft verlassen uns Eltern die Nerven und wir weinen. Als ich für kurze Zeit allein an Olivias Bett saß, rannen mit stumm Tränen runter. Als Olivia es bemerkte, meinte sie: „Papa, Du weinst?“

Ich fahre heim. Zu Hause breche ich in verzweifeltes Schluchzen aus. Heimlich, in der Küche.

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